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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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hatte ihr eine Botschaft bringen wollen, um das, was uns zugestoßen war, abzuwenden und zu korrigieren. Aber in Dr. Erichsons Universum war die Zukunft nicht korrigierbar und die Vergangenheit war unveränderlich.
    »Also keine Zeitreisen?«
    »Nicht in dem Sinne, der Ihnen helfen könnte.«
    »Was geschieht ist unabänderlich.«
    »Allem Anschein nach ja.«
    »Aber man kann Dinge verändern, die noch nicht geschehen sind?«
    Er überlegte lange. Dann sagte er: »Ich könnte nicht einmal sagen, was die Frage bedeutet.«

HERBST   1945
     
    Sie dreht sich um und sieht ihren Jojo, den kleinen, in der Tür stehen; er hält ihr einen Eisbeutel hin für eine unheilbare Verletzung. Die zugeworfene Haustür bebt noch, ein Nachhall der Erregung ihres Vaters. Delia Strom dreht sich um, ihr schwindelt, und da steht ihr kleiner Junge, schon damals Opfer seiner Selbstlosigkeit, betrachtet, was ihn unter seinen Füßen zerquetschen wird. Er steht einfach nur da, bietet ihr seine Gabe dar, ängstlich, bereit, alles wegzugeben. Opfer von etwas, das größer ist als Familie. Mächtiger als Blut.
    Sie hebt den Jungen auf, drückt ihn schluchzend an sich. Das ängstigt das Kind noch mehr als alles, was gerade geschehen ist. Jetzt ist auch sein Bruder wieder wach, zieht an ihrem Bein, versichert ihr, dass alles wieder gut wird. David, der Rechenkünstler, hat den Blick auf die Glasscheibe der Tür geheftet, hält Ausschau nach jedem Schatten, der sich draußen auf der Straße bewegt. Sie dreht sich wieder zu ihm hin. Er hat die Hand am Türknauf, bereit, ihrem Vater nachzulaufen. Aber er regt sich nicht.
    Keiner von den Jungen fragt, wo ihr Opapa ist. Es könnte für sie genauso gut schon morgen sein. Nächste Woche. Opapa hier; Opapa fort. Sie stecken noch tief in ewiger Gegenwart. Aber sie sehen sie weinen. Sie
    haben den Streit gehört, auch wenn sie nicht wissen, worum es ging. Schon da verliert sie sie an dieses Größere, dies Phantom, das schließlich ganz Besitz von ihnen ergreifen wird. Schon tragen sie ihr Etikett. Schon jetzt die Zweiteilung, die getrennten Eingänge, das Aufrechnen.
    »Nichts«, sagt David, späht noch immer durch die Scheibe. Sie weiß nicht, was er meint. Ihr Vater hat sie mit diesem Mann allein gelassen, diesem farblosen Mann mit seinem Akzent, dem Mann, der mitgeholfen hat, die letzte, die blendend weiße Waffe zu bauen. »Nichts zu sehen. Kommt. Wir gehen zu Bett. Darüber können wir uns morgen noch Sorgen machen.«
    Ein Mann, der Deutsch spricht. Die Sprache Hitlers. Nicht ein einziges Mal hat sie ihm das vorgehalten, den ganzen Krieg hindurch nicht. Sie hat an seiner Seite Lieder gesungen – deutsche Melodien, deutsche Texte –, vier lange Jahre lang, immer mit dem Gedanken, dass die Nachbarn es hören und der Polizei melden könnten. Aber sie hat doch mitgeholfen, ihre mehrstimmige Wache zu halten, diese Laute zu verteidigen gegen all den Missbrauch, der mit ihnen getrieben wurde. Beide hatten sie diesen Krieg unterstützt: Krieg gegen die auf Rasse begründete Macht, gegen den endgültigen Albtraum von Reinheit. Der Geist, den die Alliierten in Berlin töteten, hätte auch in Amerika besiegt sein müssen. Aber hier in ihrem Land ist nichts besiegt. Nichts außer ihrer eigenen lächerlichen Ignoranz. Ihr Vater hat sie im Stich gelassen. Hat sie sitzen gelassen dafür, dass sie einen Krieg vergessen hat, der hundertmal länger und zerstörerischer ist, die schleichende Vernichtung eines ganzen Volkes. Hat sie verlassen, weil sie ihn verlassen hat. Du hast dich entschieden. Du weißt, auf welcher Seite du stehst. Aber sie hat sich für nichts entschieden, sie wollte einfach nur fertig sein mit dem Krieg, wollte leben in dem Frieden, für den sie und die ihren den Preis schon so vielfach gezahlt haben.
    Es gibt keinen Frieden. Die Sorgen können bis morgen warten. Morgen – es ist ja schon morgen – schämen sie sich so sehr, dass sie sich nicht einmal in die Augen sehen. David geht zur Arbeit, und worin diese Arbeit besteht, darüber kann sie bestenfalls Vermutungen anstellen. Er lässt sie mit den Jungen allein, so wie ihr Vater sie mit ihrer Familie allein gelassen hat. Allein mit zwei Kindern, vor denen sie jeden Zweifel verbergen muss, den es auf der Welt überhaupt nur gibt. Sie liest ihnen aus fremden Büchern vor. Sie spielt mit ihnen – Spielzeugautos, Bauklotzhäuser, die nach den Idealen eines anderen gestaltet sind. Am Nachmittag singen sie zusammen, und die Jungen überbieten sich

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