Der Klang der Zeit
antwortet sie: »Sie heißt Ruth.«
DON GIOVANNI
Ein halbes Dutzend Lokale in Atlantic City hätte mich anstellen können. Auch wenn die große Zeit der Livemusik zu Ende ging, war sie doch in den frühen siebziger Jahren noch keine Seltenheit, und was ich spielte, störte niemanden außer mich selbst. Wir waren im Krieg. Nicht Kapita-lismus contra Kommunismus, nicht die Vereinigten Staaten gegen Vietnam, Studenten gegen ihre Eltern, Nordamerika gegen den Rest der Welt. Ich spreche vom Krieg der lauten gegen die leise Musik, der elektrischen gegen die akustische, der komponierten gegen die impro-visierte, von Rhythmus contra Melodie, Schock contra Wohlanständigkeit, dem Krieg der Langhaarigen gegen die Kurzhaarigen, der Vergangenheit gegen die Zukunft, Rock gegen Folk gegen Jazz gegen Metal gegen Funk gegen Blues gegen Pop gegen Gospel gegen Country, schwarze Musik gegen weiße Musik. Jeder musste Farbe bekennen, und Musik war die Fahne, die man hochhielt. Wer man war, das zeigte man dadurch, welchen Sender man auf dem Radio eingestellt hatte. »Whose side«, fragte der Song. »Whose side are you on?«
Das Erfolgsgeheimnis der Sachen, die ich im Glimmer Room gespielt hatte, war, dass sie sich nie festlegten. Mein Überleben als Musiker hing davon ab, dass ich Musik spielte, mit der sich niemand identifizierte. Wahrscheinlich hätte man jeden einzelnen Song einem Bluttest unterziehen und feststellen können, zu welcher der Kriegsparteien er gehörte. Aber ich spielte mit einem seltsamen, fremdartigen Akzent, den keiner so recht zuordnen konnte. Bis ich einen Song durch die Mangel meiner im Selbststudium erworbenen Improvisationskünste gedreht hatte, ihn ausgeziert hatte mit Schnipseln aus dreihundert Jahren vergessener Klaviermusik, konnte keiner mehr sagen, ob er nun Freund oder Feind war.
Ich konnte den Gedanken, wieder als Barpianist aufzutreten, nicht ertragen. Für das Haus in Fort Lee fand sich ein Käufer. Ich zahlte die Steuern und legte den Rest von Pas Hinterlassenschaft auf drei Bankkonten an, für jeden von uns eins. Von meinem Anteil konnte ich eine zwar nicht unbegrenzte, aber doch stattliche Zahl von Monaten leben, ohne dass ich Musik klimpern musste, die mir nichts bedeutete. Teresa drängte mich sogar, zu Hause zu bleiben. Sie glaubte, ich trauere. Sie dachte, ich brauchte Zeit, um wieder auf die Füße zu kommen, und versorgte mich nach Leibeskräften. Sankt Teresa kochte für mich, machte Spaziergänge mit mir und hielt mir Blicke schleudernd all die Hüter des reinen Stammbaums vom Leibe, die mich am liebsten auf der Stelle gelyncht hätten.
Diese Wochen hätten ein ganz normales Leben sein können, wäre ich nicht so kleinmütig gewesen. »Liebling?«, sagte ich im Dunkeln, von meiner geliehenen Hälfte des Kissens her. Wir waren inzwischen so weit, dass sie nur noch einen einzigen Ton brauchte, dann wusste sie, welches Lied es war. »Du musst dich mit deinem Vater versöhnen. Ich kann das nicht ertragen. Das schlechte Gewissen bringt mich um. Du musst zu ihm. Das ist wichtiger als alles andere.«
Sie lag schweigend neben mir, hörte, was ich mich nicht zu sagen traute. Wir wussten beide, dass diese Versöhnung nur auf eine einzige Weise möglich war. Sie hatte ihren Vater längst abgeschrieben, hatte ihre Familie aufgegeben für ein höheres Ideal. Und mit so viel Heroismus konnte ich beinahe leben. Der schwache Punkt war nur, dass ich dieses höhere Ideal war.
Sie kaufte mir ein kleines elektrisches Wurlitzer-Klavier. Es musste die Ersparnisse von zwei Jahren Arbeit in der Bonbonfabrik gekostet haben und war doch nur ein Zehntel von dem Instrument, das ich nach dem Tod meines Vaters für ein paar Hundert Dollar verkauft hatte. Am Tag, an dem es geliefert wurde, erschien sie in meiner Wohnung, verbarg vor Aufregung und Furcht ihr Gesicht in den Händen. »Ich dachte, du brauchst doch etwas zum Üben. Zum Arbeiten. Bis du ... so lange du keine ...«
Hätte sie mir ein Messer in die Brust gestoßen, hätte sie mich nicht schwerer treffen können. Ich betrachtete das Klavier, das in seiner Versandkiste lag wie ein Lynchopfer im offenen Sarg. Ich konnte es ihr nicht sagen, aber das kleine Ding war ein doppelter Invalide. Es hatte nur vierundvierzig Tasten, halb so viel wie ein anständiges Klavier. Selbst das einfachste Arrangement würde sich den Kopf an der Zimmerdecke stoßen. Und die Mechanik war so widerspenstig wie eine Tür mit automatischem Türschließer. Es fühlte sich
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