Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
Vom Netzwerk:
wie die Welt der Weißen war – wie konzentriert, wie schwerfällig, wie anmaßend –, bis ich in diesem Saal meinen Koffer auspackte und ein Dutzend Jungen gaffte und sehen wollte, was für Fetische hervorkamen. Erst als Pa sich verabschiedet hatte und sich wieder auf den Weg zum Südbahnhof machte, begriff ich, wo mein Bruder dieses letzte Jahr verbracht hatte.
    Und erst als ich aus dem Schlafsaal gestolpert kam und wieder mit Jonah zusammen war, sah ich, wie sehr ihn das Jahr an diesem mythischen Ort in Wirklichkeit verändert hatte. Ein ganzes Jahr, allein und ungeschützt, hatte er unter einer Schülerschar gelebt, deren einziger Gedanke die panische Furcht war, sie könne sich an diesem Aussätzigen anstecken. Als er mit mir durch die Gänge ging, verlegen jetzt, weil ich sah, wie es dort zuging, bemerkte ich ein Hinken, ein Schlurfen, das von diesen zwölf Monaten geblieben war und das ich zu Hause nicht gesehen hatte. Er sprach nie über die Zeit, die er allein dort verbracht hatte, nicht einmal Jahre später. Aber ich habe mich auch nie getraut zu fragen. Ihm war nur eines wichtig, und das wollte er mir zu verstehen geben : Die anderen bedeuteten für uns nichts und würden niemals et-was bedeuten. Er hatte seine Stimme gefunden. Etwas anderes brauchte er nicht.
    Mein Bruder führte mich durchs Haus, zeigte mir die geheimnisvolleren Winkel – die holzvertäfelten Flure mit ihren muffigen Spinden, die Lastenaufzüge, die Chorprobensäle mit ihren gespenstischen Echos, die Abzweigdose, hinter deren Deckel man in etwas Stockfinsteres blicken konnte, von dem er schwor, es sei der Mädchenschlafsaal der siebten Klasse. Seinen großen Coup hob er sich bis zum Schluss auf. Heimlich, verstohlen stiegen wir einen verborgenen Aufgang hinauf, den er in Stunden einsamen Spiels entdeckt hatte. Er führte auf ein Dach, von dem aus man die Victory Gardens überblicken konnte, eine Errungenschaft der Heimatfront, die auch in Friedenszeiten überlebt hatte. Mein Bruder richtete sich heroisch auf, ganz Sarastro. »Joseph Strom, in Anerkennung deiner Kunst und zum Lohn für deine großherzigen Taten nehmen wir dich auf in unsere Gemeinschaft der Gleichen und laden dich ein zur Teilnahme an all unseren Geheimtreffen im Heiligtum. Tritt ein!«
    Mit einem »Wo?« verdarb ich die weihevolle Stimmung. Die Burg der Ordensritter erwies sich als eine Gerätekammer aus unverputztem Stein. Wir drückten uns hinein, zwei Jungs zu viel, und hielten unsere Versammlung, der sogleich mangels Tagesordnungspunkten die Puste ausging. Da saßen wir, zwei Gleiche in der Ordensburg, denen nichts anderes übrig blieb, als wieder hinaus zu den ahnungslosen Massen zu gehen.
    Im Speisesaal rief in der ersten Woche ein blonder Knabe, ebenfalls Neuankömmling: »Habt ihr zwei etwa schwarzes Blut? Meine Eltern sagen, ich darf mit niemandem essen, der schwarzes Blut hat.«
    Jonah stach sich mit der Gabel in den Finger, bis es blutete. Er hielt den Finger in die Höhe und deutete mit einer Bewegung Rituale an, von denen der Blondschopf lieber nichts hören wollte. »Iss damit«, sagte er und wischte einen roten Fleck auf die Serviette des Jungen. Der ganze Tisch war begeistert. Als der Aufseher kam, schworen alle, es sei ein Unfall gewesen.
    Mir blieb der ganze Betrieb unverständlich. Ich konnte mit diesen Jungen mit ihren austauschbaren Namen nichts anfangen, weder mit ihrem schlaffen, bleichen Äußeren noch mit ihrer lässig-verächtlichen Art, ich fand mich in dem labyrinthischen Gebäude mit seinen wimmelnden Kindern nicht zurecht, und vor allem machte mir das zu schaffen, was an meiner neuen Existenz am unerwartetsten war: Mein Bruder – der einzelgängerischste, selbstgenügsamste Junge, der mir je begegnet war – hatte gelernt, die Gesellschaft anderer zu überstehen.
    Ich war nach Boston gegangen, weil ich dachte, ich müsse Jonah retten. Er hatte unseren Eltern weisgemacht, dass er mit Begeisterung auf die Schule ging, und es war wichtig, dass unsere Eltern ihm das glaubten. Ich wusste, dass es anders war, und opferte mich, um ihn aus seinem einsamen Elend zu befreien. Ich brauchte nur Tage, bis ich sah, dass es genau umgekehrt war: Das ganze Jahr über hatte mein Bruder Pläne geschmiedet, wie er mich retten würde.
    An den ersten Abenden ging ich mit einem entsetzlich schlechten Gewissen zu Bett. Dass ich diesen Betrug nicht gewollt hatte, spielte keine Rolle; ich hatte ihn trotzdem begangen. Aber binnen weniger Wochen hatte ich das

Weitere Kostenlose Bücher