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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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wirklich wolle. Sich mit zehn Jahren zwischen diesen beiden Dingen entscheiden zu müssen, das war der Tod. Jetzt wo Jonah fort war, hatte ich Mamas Unterricht fast für mich; nur mit Ruthie musste ich noch teilen. Mein Klavierspiel wurde täglich besser. Das Grammophon und die Sammlung italienischer Tenöre waren mein ganz persönliches Reich. In Terzetten durfte ich die höchste Stimme singen. Beim Zitatespiel war ich der aufsteigende Stern. Außerdem war ich mir auch sicher, dass ich die Aufnahmeprüfung in Boylston nicht bestehen würde. Mama lachte nur über meine Skrupel. »Woher willst du das wissen, wenn du es nicht versuchst?« Wenn ich es versuchte und durchfiel, war es zumindest nicht mehr meine Schuld; es würde mich von der Bürde befreien – ein Mehrfaches meines Körpergewichts –, dass ich, ganz egal was ich tat, jemanden damit unglücklich machte.
    Ich übertraf mich selbst beim Vorsingen. Außerdem hörten die Prüfer wahrscheinlich auch wohlwollend zu, denn die Schule wollte meinen Bruder nicht verlieren. Vielleicht hofften sie auch, dass ich werden würde wie er, mit ein paar Jahren Ausbildung. Was immer die Gründe sein mochten, ich bekam meinen Platz. Sie verschafften meinen Eltern sogar ein Stipendium, wenn auch kein so großzügiges wie bei Jonah.
    Als ich meine Entscheidung gefällt hatte, brachte ich es Mama und Pa so schonend wie möglich bei. Sie schienen überglücklich. Bei ihren Juchzern brach ich in Tränen aus. Mama drückte mich an sich. »Ach, Schatz. Ich bin so froh, dass mein Jojo jetzt wieder mit dir zusammen ist. Ihr zwei könnt euch gegenseitig beschützen in der Fremde. Dreihundert Meilen weit fort.« Eine ehrliche Hoffnung, nehme ich an. Aber sie hätte es besser wissen müssen.
    Sie waren gewiss überzeugt, dass der Unterricht zu Hause zu unserem Besten war, dass er uns stark fürs Leben machen würde. Aber schon bevor Jonah fortgegangen war, noch in New York, hatten wir gesehen, dass es Lücken in diesem Lehrplan gab. Schon sechs Häuserblocks von unserm Haus in Hamilton Heights, bei den pädagogischen Nachmittagsausflügen, wurde uns klar, wie sehr alles, was wir lernten, an der Wirklichkeit vorbeiging. Die Welt war kein Madrigal. Die Welt war ein Johlen. Aber schon von jungen Jahren an verbargen Jonah und ich die Verletzungen vor unseren Eltern, taten, als gebe es die Prüfungen, die die Welt uns auferlegte, nicht, und sangen, als sei die Musik alles, was wir an Panzer brauchten.
    »Es ist besser in Boylston«, versprach Jonah mir hinter der geschlossenen Schlafzimmertür, wo, glaubten wir, unsere Eltern uns nicht hören konnten. »Da bekommen diejenigen Prügel, die nicht singen können.« Wenn man ihn reden hörte, konnte man denken, es seien die ersten Treppenstufen zum Paradies, und das absolute Gehör sei der Schlüssel, der einem in diesem Reich jede Pforte öffnete. »Hundert Kinder, und jedes davon hätte am liebsten den schwierigsten Part.« Im Grunde wusste ich, dass es ein Köder war, denn er hätte mich dort oben nicht nötig gehabt, wenn es wirklich so gewesen wäre. Aber anscheinend brauchte mein Bruder mich mehr als meine Eltern mich brauchten, und so kam er und lockte: Komm mit mir.
    »Ihr zwei Jungs«, sagte Mama und versuchte zum Abschied zu lächeln. »Ihr zwei, ihr seid einzigartig.«
    Nichts, was er mir erzählt hatte, hatte mich auf diese Schule vorbereitet. Boylston war ein letztes Bollwerk der europäischen Kultur, der Kultur, die sich gerade zehn Jahre zuvor wieder einmal bei lebendigem Leibe verbrannt hatte. Es war aufgemacht wie die Choralschola einer Kathedrale und pflegte Kontakte zum Konservatorium jenseits der Fens. Die Kinder wohnten in einem fünfstöckigen Gebäude rund um einen Innenhof, in einem Haus, das, genau wie Mrs. Gardners ein Stückchen den geschlängelten Fenway hinunter, ein italienischer Palazzo werden wollte, wenn es einmal groß war.
    Alles an Boylston war weiß. Im Augenblick, in dem mein Koffer seinen Platz im Juniorschlafsaal fand, wusste ich, was die Jungen, die mich anstarrten, sahen. Nicht dass meine neuen Kameraden entsetzt gewesen wären; die meisten hatten ja schon ein Jahr mit meinem Bruder verbracht. Aber der honiggelbe Ton meines Bruders hatte sie nicht auf mein Milchkaffeebraun vorbereitet. Sie standen wie eine Kalksteinmauer, sahen mich an, verständigten sich über mich, als ich mit meinem Vater, der den Arm um mich gelegt hatte, den langen krankenhausartigen Schlafsaal durchquerte. Ich hatte nicht gewusst,

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