Der Klang der Zeit
Gefühl, dass es, wenn man schon ins Exil musste, schlimmere Orte gab als Boylston. Ich erkundete das Gebäude, machte Ausflüge in die Fens, ging zu kurzfristig anberaumten Sitzungen in die Ordensburg, und nach einer Weile kam ich mir eher wie ein von der menschlichen Gesellschaft Verschonter, als wie ein Ausgestoßener vor. In jenen letzten Tagen meiner Kindheit lernte ich, wo mein Platz war in der Welt.
So wie wir aufgewachsen waren, trauten wir der Musik eher als dem Wort. Ich hatte geglaubt, der mehrstimmige Gesang sei ein persönliches Ritual unserer Familie. Doch hier, in diesem fünfstöckigen Parnass in einer Schleife des Charles River, begegneten Jonah und ich zum ersten Mal anderen musikalisch gebildeten Kindern. Ich musste mich anstren-gen, dass ich mit meinen Klassenkameraden mithielt, musste mich sputen, dass ich all die Sätze in unserer gemeinsamen Geheimsprache lernte, die sie schon kannten.
Wenn die Schüler von Boylston meinen Bruder hassten, dann hatten sie bessere Gründe dafür als die Rasse. Sie waren aus dem ganzen Land zusammengekommen, jeder seiner außerordentlichen musikalischen Begabung wegen, die ihn aus der Masse der anderen herausragen ließ und ihn zu etwas besonderem machte. Und dann kam Jonah und brachte sie in ihren Höhenflügen jäh zum Absturz; verwundet, flügelschlagend, lagen sie am Boden. Die meisten hätten ihm wohl am liebsten ein Kissen auf seine Sopranlippen gedrückt, oben in dem lang gestreckten Saal, in dem die Chorknaben der mittleren Jahrgänge schliefen. Hätten zuge-drückt, bis selbst seinen unerschöpflichen Lungen die Luft ausging. Doch mein Bruder hatte eine Art, immer wieder selbst von seinen Leis-tungen überrascht zu sein, und das gab seinen Gefährten das Gefühl, dass sie eigentlich eher Komplizen als Konkurrenten waren.
Was sie als seine Unerschrockenheit erkannten, erschreckte sie. Kein anderer scherte sich so wenig um die Folge seiner Taten, kein anderer sah so wenig den Unterschied zwischen Lob und Tadel. Von ihm stammte die Idee, dass wir aufs Dach kletterten und von dort oben Haydns Schöpfung im Scatgesang deklamierten. Die Leute blieben auf dem Bürgersteig stehen, und das Impromptu hätte wohl mit einem strengen Tadel geendet, hätte der Globe nicht einen amüsierten Artikel darüber gebracht. In den Pausen der Chorproben stimmte er ein »Star-Spangled Banner« in Moll an oder organisierte ein irrwitziges »Row, Row, Row Your Boat«, bei dem jede neue Kanonstimme einen halben Ton höher einsetzte als die vorhergehende. Abenteuerliche Dissonanzen waren sein Lieblingsstreich, und so lernte er seinen Ton zu halten, auch bei den komplizierteren Melodien, die noch kommen sollten.
Mit den Jungen, die mithalten konnten, debattierte er stundenlang über die Meriten der großen Tenöre. Jonah hielt Caruso hoch, den er über alle Herausforderer der Gegenwart stellte. Mein Bruder war überzeugt da-von, dass seit jenem goldenen Zeitalter die Kunst des Singens einen Niedergang erlebt hatte, seit ihrem Höhepunkt kurz vor unserer Geburt. Die anderen stritten sich mit ihm, bis sie aufgaben, bis sie ihn Pervers-ling, Irren oder Schlimmeres nannten.
János Reményi, Boylstons Direktor, glaubte, er könne verbergen, dass er ihn bevorzugte. Aber nicht einmal Kinder konnte er damit täuschen. Jonah war der einzige Schüler, den Reményi beim Vornamen nannte. Jonah sang stets an prominenter Stelle bei den monatlichen Konzerten der Schule. Bei den Proben kam jeder einmal mit den spektakulären Soli an die Reihe, aber für die Aufführung ließ Reményi sich meist eine künstlerische Rechtfertigung dafür einfallen, warum eine bestimmte Partie von jemandem mit exakt Jonahs Stimmfarbe gesungen sein sollte.
Die meisten dieser Kinder hatten gewiss ihre Phantasien, dass sie meinen Bruder hinaus auf den Spielplatz zerrten und ihn kopfüber ans Klettergerüst hängten, bis ihm die Lungen zum Halse herauskamen. Und wenn Jonah einfach nur eine außergewöhnliche Stimme gehabt hätte, hätten sie es vielleicht auch getan. Aber selbst das unerbittlichste Sonnenlicht bleicht das Gelb einer Blume nicht aus. Wir verabscheuen nur die, von denen wir glauben, dass ihr Platz rechtmäßig uns gehören sollte. Jonahs Stimme stand so hoch über ihnen, dass er unerreichbar für den Hass seiner Mitschüler war, und so lauschten sie nur, erstarrten in der Gegenwart dieses fremdartigen Wesens, ließen es geschehen, dass dieser Feuervogel kam und ihr Vogelhäuschen plünderte.
Wenn
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