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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Jonah sang, überkam János Reményi eine Trauer. Der Mann schien von seligem Schmerz erfüllt. In Jonah hörte Reményi alles, was er in jüngeren Jahren beinahe selbst gewesen wäre. Wenn mein Bruder sang, dann füllte der Saal sich mit verlorenen Hoffnungen, und jeder Zuhörer dachte an all die Orte, an die ihn sein Pfad niemals führen würde.
    Im Laufe der Zeit akzeptierten die anderen mich als Jonahs Bruder. Aber der verwirrte Ausdruck auf ihren Gesichtern blieb. Ich weiß nicht, was sie mehr beschäftigte: Meine dunklere Hautfarbe, meine lockigeren, weicheren Züge oder die Stimme, die einfach nicht abheben wollte. Ein paar kleine Sensationen brachte auch ich zustande. Ich konnte besser vom Blatt singen, als selbst Schüler aus der achten Klasse. Und mein Gespür für Harmonie, das ich in langen Nachmittagen mit Mama am Klavier entwickelt hatte, gab mir eine sichere, wenn auch widerstrebend gewährte Zuflucht.
    Boylston galt zwar als vollwertige Schule, aber in Wirklichkeit wurde kaum anderes als Musik gelehrt. Das meiste, was sonst noch im ersten Jahr unterrichtet wurde, hatte ich schon gründlicher von meinen Eltern gelernt. Trotzdem musste ich alles noch einmal neu mitmachen. Die Uhr im Schulzimmer, in dem der Grammatikunterricht stattfand, folterte mich. Erst wenn der Sekundenzeiger eine ganze Runde absolviert hatte, rückte der Minutenzeiger mit einem trockenen Ploppen einen Skalen-strich weiter in Richtung Erlösung vor. In der Zeit zwischen zwei solchen Sprüngen blieb er unbeweglich, und jeder Fortschritt schien unvorstellbar. Langeweile schloss die Zeit in Bernstein ein. Beharrlich hielt der Minutenzeiger sich fest, verweigerte jede Regung, auch wenn ich ihn mit all meiner geistigen Energie zu bewegen versuchte. Die Grammatikstunde wurde gewalzt, bis sie dünn wie Papier war und so weit wie die Welt. Bevor Miss Bitner das sich immer weiter verzweigende Diagramm, mit dem sie uns den Aufbau eines Satzes verbildlichen wollte, zu Ende zeichnete, hatte ich die nächsten sechs Jahrzehnte meines Lebens in allen Einzelheiten durchmessen und die Gesichter meiner Enkelkinder erschienen vor meinem inneren Auge.
    Ohne unseren Vater, der aus der ganzen Welt ein Abenteuer machte, beschränkte Jonahs und meine geistige Tätigkeit sich auf die Musik.
    Nach ein paar Monaten fiel es uns schon schwer, die Denksportaufgaben zu bewältigen, die wir zu Hause mühelos beim Abendessen gelöst hatten. Unser Lehrer in Naturwissenschaften kannte Vaters Arbeiten und behandelte uns mit einem geradezu Angst einflößenden und gänzlich unverdienten Respekt. Ich musste für zwei schuften und für Jonah die Rechenaufgaben mitmachen, damit die Ehre unserer Familie gewahrt blieb.
    Die Schüler von Boylston hätten meinen Bruder zum König gekrönt, hätte er nur ein klein wenig mehr ausgesehen wie sie. Die Größeren, die in der Schule den Ton angaben, versuchten ihn für Sinatra zu interessieren. Sie hockten heimlich zusammen und lauschten, wenn vom Lehrkörper keiner in der Nähe war, der verbotenen Unterhaltungsmusik. Jonah tat die munteren Backfischmelodien mit einem einzigen Lächeln ab und schnalzte herablassend mit der Zunge. »Himmel, wer hört sich denn so was an? Entwickelt man so eine Tonfolge? Die Melodie kann ich euch hersingen, bevor er überhaupt angefangen hat!«
    »Aber die Stimme! Die ist doch Spitze, oder?«
    »Hört sich an, als ob er mit Hustensaft gurgelt.«
    Die aufmüpfigen Vorstadt-Chorknaben hielten mitten im Fingerschnippen inne. »Was ist mit dir los, Mann?«, schnauzte einer ihn an. »Mir gefällt diese Musik.«
    »Die Melodien sind einfältig und trivial.«
    »Aber die Band. Die Arrangements. Der Rhythmus .. .«
    »Die Arrangements hören sich an, als kämen sie aus einer Fabrik für Feuerwerkskörper. Der Rhythmus – na ja, munter ist er. Das gebe ich zu.«
    Also sprach ein Zwölfjähriger, jedes seiner Urteile todernst. Die Jungs versuchten es mit Eartha Kitt. »Ist das nicht eine Negerin?«, fragte ich.
    »Was willst du denn hier? Raus mit dir!« Alle sahen mich strafend an, Jonah eingeschlossen. »Du denkst aber auch, jeder wäre ein Neger.«
    Sie versuchten es mit Sängern, die noch mehr »hip« waren als Sinatra. Hillbilly, Rhythm and Blues. Aber jede Platte, die sie ihm vorspielten, erntete ein vernichtendes Urteil. Jonah verzog das Gesicht und hielt sich die Ohren zu. »Dieses Schlagzeug, das tut ja weh. Das ist schlimmer als die Kanonen, die die Boston Pops für die 1812-Ouvertüre

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