Der Klang der Zeit
abfeuern.«
Für jemanden, dessen Halsmuskeln so ungeheuer beweglich waren, war er ein linkisches Kind. Mit dem Fahrrad kam er nie richtig zurecht, nicht einmal auf breiten Straßen. Wenn die Schule uns zum Baseball zwang, stand ich hilflos im linken Außenfeld und versuchte die niedrigen Bälle zu erwischen, ohne dass ich meine Finger in Gefahr brachte, aber Jonah trottete weit nach hinten auf die rechte Seite des Spielfelds und sah zu, wie die hohen Bälle direkt vor seinen Füßen zu Boden gingen. Er hörte sich Übertragungen im Radio an – zumindest so weit hatten seine Kameraden ihn gebracht. Oft machte er während der Sendung seine Stimmübungen. »Da kann ich lernen, das Zeitmaß zu halten, wenn die anderen aufgeregt hin- und herrennen.« Wenn die Nationalhymne kam, sang er die verrücktesten Harmonien dazu. Es klang wie Strawins-ky.
Diese verwöhnten Jungen, die die Kultur so selbstverständlich als die ihre ansahen, die nie auch nur mit einem Menschen einer anderen Rasse gesprochen hatten, waren bereit, uns die Hand zu reichen, solange sie die Spielregeln bestimmen durften. Wir konnten unseren Klassen-kameraden ihre verzweifelte Hoffnung bestätigen, dass das, was sie am meisten fürchteten – die Armeen von anderen in den Vierteln, in die man nicht fuhr, die Fremden, die jedes Wort aus ihren Mündern verhöhnte –, am Ende gar nicht anders war als sie selbst: dass die anderen genauso gern Wiener Sängerknaben aus sich machen ließen, wenn sie nur ein bisschen Erziehung und ein bisschen Glück hatten. Wir waren die singenden Wunderkinder, die farbenblinden Botschafter unserer Kultur. Erben einer langen Vergangenheit, Verkünder ewiger Zukunft. Was wussten wir schon ?
Football würdigte er keines Blickes. »Löwen und Gladiatoren. Wieso sehen Leute zu, wenn andere sich gegenseitig umbringen?« Aber er selbst war ja der größte Killer. Er liebte Brett- und Kartenspiele, nutzte jede Chance, einen anderen zu bezwingen. Bei Marathon-Monopoly-sitzungen setzte er dermaßen die Daumenschrauben an, dass Carnegie vor Neid erblasst wäre. Er trieb uns nicht in den Bankrott, sondern lieh uns immer weiter Geld, nur damit er uns noch mehr abnehmen konnte. Im Damespiel war er so perfekt, dass keiner mehr mit ihm spielen wollte. Meistens fand ich ihn in den Übungsräumen im Keller, wo er endlos seine chromatischen Tonleitern sang und dazu auf dem Klavierdeckel eine Patience legte.
Es gab ein Mädchen. Schon in der Woche meiner Ankunft zeigte er mir Kimberly Monera. »Wie findest du die?«, fragte er mit einem so herab-lassenden Ton, dass es wie eine Aufforderung war, selbst etwas Verächt-liches zu sagen. Sie war ein anämisches Kind, beängstigend bleich. Ich hatte noch nie so etwas gesehen, höchstens bei den Albinomäusen mit ihren roten Augen. »Ich finde, sie sieht aus wie der Zuckerguss auf einer Torte«, sagte ich. Das war gerade grausam genug, und er quittierte es mit einem Schnauben.
Kimberly Monera war gekleidet wie das kränkliche Kind eines Adligen der Belle Epoque. Ihre Lieblingsfarben waren Lindgrün und Terrakotta. Alles Dunklere ließ ihr Haar wie Watte aussehen. Sie ging so stocksteif, als hätte sie einen unsichtbaren Stoß Bücher auf dem Kopf. Anscheinend fühlte sie sich nackt, wenn sie ausging und keinen breitkrempigen Hut aufhatte. In Gedanken sehe ich sie auch Handschuhe mit winzigen Knöpfen tragen, aber ich glaube, das ist eine Erfindung von mir.
Ihr Vater war Federico Monera, der dynamische Operndirigent und noch dynamischere Komponist. Er war ständig zwischen Mailand und Berlin und der amerikanischen Ostküste unterwegs. Ihre Mutter, Maria Cerri, hatte auf dem Kontinent in der Rolle der Madame Butterfly Triumphe gefeiert, bevor Monera sie für sein Nachwuchsprogramm engagierte. Dass das Mädchen nach Boylston auf die Schule kam, galt als Ehre für alle. Aber Kimberly Monera hatte für ihren Status zu büßen. Man konnte sie nicht einmal einen Paria nennen. Die normalen, verschüchterten Durchschnittsschüler fanden sie so bizarr, dass sie sich nicht einmal über sie zu lachen trauten. Kimberly bewegte sich wie unsichtbar durch die Gänge der Schule und ging jedem aus dem Weg, bevor er auch nur auf sechs Schritt an sie heran gekommen war. Schon für diese Art, wie sie allen auswich, mochte ich sie. Das Interesse meines Bruders war anderer Art.
Sie sang mit einem seltenen Gespür für die Musik. Aber ihre Stimme hatte man lange vor der Zeit zu einer Erwachsenenstimme gemacht. Die
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