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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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auf die Idee gekommen. Wir fragten einen Lieferwagenfahrer. »Bäckerei Frisch?« Ge–
    nauso gut hätte ich Provenzalisch sprechen können. »Das habt ihr wohl geträumt.« Schließlich blieb eine Passantin stehen, eher erschrocken als vor Mitleid, eine Frau im silberfarbenen Kostüm mit einem Türkis–und Rosenquarzarmband. Sie machte einen Spaziergang im Sonntagsstaat, als wäre nicht die ganze Stadt um sie herum seit dem Krieg zum Teufel gegangen. Sie schien verblüfft, dass sie verstehen konnte, was ich sagte. Sie hätte meine Tante sein können. Aber wenn sie das gewusst hätte, wäre sie vor Schreck tot umgefallen.
    »Frisch? Oben auf der Overlook Terrace?«
    »Ja, genau da!« Ich trat ein wenig zurück, öffnete die Hände, zum Zeichen, dass ich nichts Böses wollte.
    Meine Tante schnaubte. »Da brauchten Sie mehr als eine Wegbeschreibung. Frisch gibt es nicht mehr, schon seit Ewigkeiten. Zehn Jahre müssen das sein, seit sie zugemacht haben, mindestens. Wonach suchen Sie, Jüngele?« Ihre Stimme war brüchig, ihre Strafe dafür, dass sie in dieses Land gekommen war, in dem alles sich vermischte.
    Auch Teresa sah mich an. Ja, was suchte ich?
    »Mandelbrot«, antwortete ich kleinlaut.
    »Mandelbrot!« Sie musterte mich, konnte sich nicht erklären, woher ich das Geheimwort kannte. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt, Jüngele? Da brauchen Sie doch nicht zu Frisch. Bis zur nächsten Straßenecke, dann links. Einen halben Häuserblock weiter, auf der linken Seite, da ist eine Bäckerei.«
    Ich dankte ihr überschwänglich, mein Dank so groß wie die Nutzlosigkeit dieser Information. Ich fasste Teresa am Arm und steuerte sie die Straße hinunter, in die Richtung, die mir meine Tante gewiesen hatte.
    »Mandelbrot, Joseph?« So wie sie es sagte, klang es, als wäre es einfach nur ein Brot.
    »Das konnte man früher hier kaufen.«
    »Mandelbrot! Warum hast du mir nie gesagt, dass du Mandeln magst? Ich hätte dir doch eins backen ...« Teresa sah mich unglücklich an, als sei es ihr Fehler. Du hättest doch deine Freundin mitbringen können, wir hätten sie mit ins Bett genommen.
    Wir fanden den Laden. Er hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit der Bäckerei Frisch. Was sie uns dort als Mandelbrot verkauften, hätte genauso gut Zimtschnitte sein können. Wir setzten uns auf eine Bank und aßen. Unser Tag in der Stadt ging zu Ende. Ich blickte die Straße hinunter und sah einen Mann, der in einem Abfallkorb aus Maschendraht wühlte. Das Morgen war das Licht am Horizont, es eilte in raschem Lauf, um den Anschluss an das Gestern zu bewahren. Das war die Straße, durch die Pa uns geführt hatte, auf der er uns erklärt hatte, dass jede Uhr des Universums ihre eigene Zeit hatte. Dieselbe Bank, obwohl dieselbe offenbar nichts bedeutete.
    Wir hatten beide den ganzen Tag über nichts gegessen, aber Teresa würgte an ihrem Mandelbrot wie an einer Hostie beim Abendmahl. Sie rupfte kleine Bröckchen ab und warf sie den Tauben zu, und dann verfluchte sie die Vögel, als sie in Scharen kamen. Ich saß neben ihr, gefangen in einer Schleife meines eigenen Lebens. Die Jungs und ihr Vater gingen an uns vorüber, als wir auf dieser Bank saßen, aber sie wussten noch nicht, wie sie uns sehen mussten. Es gab keinen Ort, an den ich von diesem Hier und Jetzt aus gehen konnte. Ich erhob mich und wollte weiter, aber ich konnte mich nicht rühren. Teresa hing an mir, hielt mich fest an diesem Ort. »Joseph. Mein Joe. Wir müssen es legal machen.«
    »Es?« Der Versuch, alle Uhren zu zerschlagen.
    »Uns.«
    Ich setzte mich wieder. Ich beobachtete den Mann am Mülleimer, der ein glänzendes Päckchen Aluminiumfolie auseinander faltete. »Terrie, es ist doch schön, wie es ist. Bist du denn nicht glücklich?« Sie senkte den Blick. »Warum sagst du immer ›legal machen‹? Hast du Angst, dass sie dich verhaften? Brauchst du einen Vertrag, für den Fall, dass du mich mal verklagen musst?«
    »Verträge können mir gestohlen bleiben. Die Justiz ist mir egal.« Sie weinte, presste die Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Du sagst immer wieder ja, aber nichts geschieht. Genau wie bei deiner Musik. Du sagst, du willst, aber dann tust du's nicht. Die ganze Zeit warte ich auf dich. Aber ich habe längst das Gefühl, eigentlich schlägst du mit mir nur die Zeit tot. Du glaubst, du findest eine Bessere, eine, die du wirklich heiraten willst, eine, mit der du –«
    »Nein. Das ist nicht wahr. Nie im Leben werde ich jemanden

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