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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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finden, der ... besser zu mir ist als du.«
    »Wirklich, Joseph? Ehrlich? Warum willst du es dann nicht beweisen?«
    »Was müssen wir denn beweisen? Geht es bei der Liebe um Beweise?« Worum sonst?, dachte ich, noch während ich die Worte sprach. Das ist Liebe, genau das. Teresa legte den Kopf auf die Knie und weinte. Ich streichelte ihr den Rücken, meine Hand beschrieb große, weit ausholende Ovale, wie ein Kind, das seine ersten Os malt. Ich habe Schreiben bei Mama gelernt, aber ich kann mich nicht erinnern, dass sie es mir beigebracht hätte. Ich streichelte Terries Rücken, als die Schluchzer sie schüttelten, spürte, dass meine Hand von einem fernen, fremden Ort kam.
    Ein Mann im schwarzen Anzug und einem zerknautschten Filzhut, älter als das Jahrhundert, schlurfte vorbei. Als er das Schluchzen hörte, beschleunigte er sein Schlurfen zum Kriechen. Als er sah, dass unser Kummer keine Gefahr für ihn war, blieb er stehen. »Ist es krank, das Kind?«
    »Ihr fehlt nichts. Es ist nur ... Leid.« Er nickte, kniff die Augen zusammen und sagte etwas in Pas Sprache, das ich nicht verstand. Aber ich hörte heraus, dass er mich tadelte. Dann schlurfte er weiter, blieb alle zwanzig Schritte stehen. Überlegte, ob er die Polizei rufen sollte.
    Ich wusste, wie wichtig Teresa die Ehe war, auch wenn sie sich nicht dazu durchringen konnte, es zu sagen. Wenn wir heirateten, lenkte ihre Familie vielleicht ein und nahm sie wieder auf. Wenn wir blieben, wie wir waren, bestätigten wir nur, was sie schon immer gewusst hatten. Für immer würde sie in Sünde mit einem leichtfertigen Schwarzen leben, dem sie nicht einmal so viel bedeutete, dass er ihr einen Ring dafür gab.
    Aber die Ehe war undenkbar. Sie war so falsch, dass ich es nicht einmal annähernd in Worte fassen konnte. Mein Bruder und meine Schwester machten sie unmöglich. Mein Vater und meine Mutter. Ehe, das bedeutete, dass man zu etwas dazugehörte. Dass man eine Heimat fand, einen Hafen. Einen Ruhepunkt. Der Fisch und der Vogel konnten sich verlieben, aber das Hier und Jetzt würde jeden Zweig davonfegen, den sie für ihr Nest herbeischleppten. Ich weiß nicht, zu welcher Rasse Teresa mich gerechnet hätte, aber es war jedenfalls nicht die ihre. Rasse war allemal stärker als die Liebe, ergriff Besitz von jedem liebenden Verstand. Es gab keinen Mittelweg. Meine Eltern hatten es versucht, und was dabei herausgekommen war, war mein Leben. Ich fand nicht, dass ich dieses Experiment noch einmal machen sollte.
    Plötzlich saß ich wieder in einem kalten Dezember am Kenmore Square in Boston. Mein Bruder hatte eine Ohrfeige dafür bekommen, dass er ein Mädchen aus einer anderen Kaste geküsst hatte, das erste . Mal in seinem Leben, dass ihm etwas missglückt war; jetzt erklärte er mir, dass wir die einzige Rasse waren, die sich nicht reproduzieren konnte. Damals hielt ich ihn für verrückt. Aber nun schien es mir selbstver-ständlich. Ganz egal mit welcher Musik Teresa und ich unsere Kinder großgezogen hätten, es wäre nicht eine einzige Melodie darunter, die ihre eigene wäre, die sie nehmen konnten, ohne zu fragen, ohne gefragt zu werden, die sie so selbstverständlich singen konnten, wie sie atmeten. Teresa glaubte, Rasse bedeute nichts für sie. Sie glaubte, das habe sie hinter sich, dafür habe sie lang genug gebüßt. Aber sie hatte ja keine Ahnung. Und ich wusste nicht, wie ich ihr das begreiflich machen sollte. »Teresa. Terrie. Wie soll das gehen?«
    Ich wusste gar nicht recht, was ich sagen wollte. Aber Teresa wusste es genau. Sie blickte trotzig auf. »Wie das gehen soll? Mit uns beiden meinst du?« Es klang entsetzlich, wie ein hysterischer Anfall. Ich hatte Angst, dass sie die Nerven verlor. Ich sah mich um, hielt Ausschau nach dem nächsten Telefon. »Wie wir hier sitzen können?« Sie schüttelte den Kopf, rot vor Wut, ein Widerspruch, so vehement, dass jeder Trost unmöglich schien. »Wie wir zusammen leben können? Miteinander reden?« Die Worte kamen in einem einzigen wütenden Schwall. Sie richtete sich halb auf, dann ließ sie sich wieder auf die Bank fallen. Sie wandte sich von mir ab, halb erstickt, ihre Lippen bewegten sich, aber es kam kein Laut. Sie fuchtelte mit den Armen, prügelte auf die Luft ein. Ich malte ihr weiter meine großen beschwichtigenden Os auf den Rücken, bis sie sich wütend umdrehte und meine Hand wegschlug. Ich traute mich nicht, mich zu regen. Zu ihr hin, von ihr fort – beide Katastrophen gleich groß. Mein Verstand war

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