Der Klang der Zeit
was los ist, aber sie macht mir hektische Zeichen, ich soll weiterspielen. Ruthie die Stimmenimitatorin hat ihre Wäscheklammernfamilie beiseite gelegt und steht, wie sie es tausendmal bei Mama gesehen hat, in Sängerpose vor einem Saal voller Zuhörer, Mama wie sie leibt und lebt in einem Drittel der Originalgröße. Die Stimme der kleinen Ruth ist die Stimme der Erwachsenen, die schon in ihr steckt. Als meine Mutter aufhört, singt sie »Bist du bei mir« zu Ende, singt es an ihrer Stelle, für sie, als sie.
Meine siebenjährige Schwester hat die deutschen Worte nach dem Gehör gelernt, einfach nur nach den zwei- oder dreimal, die Mama das Lied gesungen hat. Ruth versteht kein einziges Wort von dem, was sie da in der Sprache ihres Vaters singt. Aber sie singt so sicher, als wisse sie genau, wohin jedes Wort gehört. Sie singt das Lied, das Pa und Mama im Wohnzimmer unserer Großeltern spielten, als er zum ersten Mal dort zu Besuch war. Ach, wie vergnügt war' so mein Ende.
Ich spiele die letzten Noten, und Ruth läuft souverän in den Hafen ein. Mama steht mit gefalteten Händen, reglos und doch Dirigentin. Als das Lied verklingt, starrt sie mich ungläubig an. Sie bittet mich, die einzige andere Seele in Hörweite, um eine Erklärung. Dann geht sie zu Ruth, lobt sie, fährt ihr übers Haar, bringt nur ein paar ungläubige Laute hervor. »Ach mein Mädchen, mein kleines Mädchen. Kannst du denn wirklich alles?«
Aber einen Moment lang fragt sie mich, was ich davon halte. Pa ist nicht da; ich bin der einzige verfügbare Mann. Vielleicht bin ich der – der sie jetzt, ein halbes Jahrhundert später, betrachtet –, den sie fragt. Sie senkt den Blick, voller Vorahnung. Von mir möchte sie Erklärungen für das, was kommen wird. Sie hört es in Ruths Lied: hört, was auf sie wartet. In ihrem panischen Blick in die Zukunft fordert sie Dinge von mir, die ich nicht halten kann. Ihr Blick nimmt mir ein Versprechen ab: Ich muss auf sie Acht geben, auf diese ganze sangesvergessene Familie, später, wenn ich der Einzige sein werde, der sich an diesen Blick in die Zukunft erinnert. Pass auf dieses Mädchen auf. Pass auf deinen Bruder auf. Pass auf diesen hoffnungslosen Flüchtling auf, der selber nichts sehen kann, was kleiner ist als eine Galaxie. Sie blickt mich an, den Blick nach vorn gerichtet über die Jahre, sieht mein späteres Ich, erwachsen, unglücklich, der ein-zige Mensch, der zwischen ihr und dem letzten Wissen steht. Sie hört die Wirkung, bevor sie die Ursache hört: Ihre eigene Tochter singt für sie, das eine Lied, das gut genug für ihre Totenfeier ist.
Sie schickt mich nach Boston, damit mein Bruder Gesellschaft hat. Als der Tag kommt, an dem ich wirklich fortmuss, lächelt sie, wenn auch noch so gequält. Nie wieder ist von diesem Augenblick die Rede, nicht einmal in ihren Augen. Am Ende muss ich glauben, ich hätte ihn erfun-den.
Aber ich war da, bei der Probe. Und auch bei Ruths Auftritt war ich dabei. Und ich bin immer noch hier, auf die Bühne geholt für eine Zugabe, auch wenn all meine Mühen nicht einem Einzigen das Leben gerettet haben. Ein halbes Jahrhundert nach dem Tod meiner Mutter höre ich die Kadenz, die sie damals schon hörte. Sie sieht nicht voraus, was ihr widerfahren wird; eher könnte man sagen, dass sie sich daran erinnert. Denn wenn Prophezeiung einfach Erinnerung ist, die wieder in eine längst aufgeschriebene Melodie einstimmt, dann muss die Erinnerung schon alle Prophezeiungen kennen, die sich erst noch erfüllen.
MEISTERSINGER
Als er mich am Flughafen Zaventem in Brüssel abholte, hielt er wie ein Chauffeur, der auf einen unbekannten Fahrgast wartet, ein handgeschriebenes Schild mit der Aufschrift PAUL ROBESON in die Höhe. Auch das Leben in den Hauptstädten Europas hatte seinen Humor offenbar nicht erwachsener gemacht.
Ich war sogar froh, dass er mir einen Anhaltspunkt gab. Ohne das alberne Schild hätte ich ihn in der Menge womöglich gar nicht erkannt. Er hatte sich einen Bart stehen lassen, einen kleinen Spitzbart, irgendwo zwischen W. E. B. Du Bois und Malcolm X. Die Haare trug er fast schul-terlang, und sie waren glatter, als ich je gedacht hätte. Er wirkte irgendwie massiger – ein besseres Wort fiel mir nicht ein –, obwohl er seit Juilliard nicht zugenommen hatte. Die meergrün glänzende Jacke und die stahlgraue Hose machten seinen Auftritt noch eindrucksvoller. Er wirkte blass. Aber das war auch kein Wunder in einem Land, wo die Sonne ihre Gastspiele
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