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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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häufiger absagte als eine empfindliche Diva. Er sah aus, wie Christus in den vergangenen zwei Jahrtausenden eigentlich hätte dargestellt werden müssen: Kein Nordmann in wallender Toga, sondern ein dunkelhäutiger Semit vom äußersten Rand Nordostafrikas, der ältesten umstrittenen Grenze zwischen zwei Kontinenten.
    Ich hatte nicht mit einem derart begeisterten Empfang gerechnet. Er schwenkte sein Schild und vollführte dazu eine kleine Allemande. Ich setzte meine Koffer vor seinen Füßen ab und riss ihm das Schild aus der Hand. »Muli, Muli.« Er umarmte mich und rieb mir dabei so heftig über den Schädel, dass die Kopfhaut schmerzte. »Wie in alten Zeiten, Bru-der.« Es war wichtig, dass ich da war, aber ich wusste nicht wieso. Er schnappte sich den größeren Koffer und stöhnte, als er ihn anhob.
    »Selbst schuld«, sagte ich. »Beinahe hätten sie mich mit der ganzen Erdnussbutter nicht durch den Zoll gelassen.«
    Er schnüffelte. »Ah! Der entscheidende Beitrag meines Landes zur Weltkultur. Das Zeug wird uns umhauen – auf einem knusprigen Baguette.«
    »Ich musste die Hälfte meiner Kleider wegwerfen, weil ich sonst keinen Platz dafür gehabt hätte.«
    »Wir müssen dich sowieso neu einkleiden«, sagte er mit einem verächt-lichen Blick auf meinen Aufzug. Ich sah mir die umstehenden Männer an: Sie schillerten alle in den gleichen seekranken Farben wie Jonah. Wir drängten uns durch das Spalier der Wartenden zur Eingangstür. »Bist du gut weggekommen?«
    Ich zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen. Ich hatte Teresa verlassen, und mir war, als wäre ich aus dem Bett gesprungen und hätte dabei den Collie getreten, der treu auf dem Vorleger über mich wachte. Mein ganzer Körper fühlte sich hohl an, von den Schlüsselbeinen bis hinunter zu den Knien, als hätte mir jemand mit Stahlwolle das Fleisch von den Knochen geschliffen. In der Zeit nach dem Tod meines Vaters, als meine Empfindungen völlig abgestorben waren, hatte Teresa mich gepflegt, und alles nur, damit ich das jetzt spüren konnte: diese rasante Schussfahrt über den Abgrund des Nichts, hinaus in die völlige Unabhängigkeit. Was ich auch sah, schien vom Tode gezeichnet. Selbst dieser Flughafen trug die schaurigen Farben einer gotischen Kreuzigung.
    Draußen über dem Atlantik, umgeben von dichten Wattewolken, war mir, als löse sich die Haut von meinem Körper ab. Der Klapptisch, das Taschenbuch in meiner Hand, der Sitz unter mir, alles zerstob. Die Entscheidung nach Europa zu gehen schlug über mir zusammen wie die Fluten des Roten Meers. Ich hatte eine Frau, die für mich da war, ver-lassen, weil ich wieder für meinen Bruder da sein wollte. Ich hatte end-gültig die Hoffnung aufgegeben, dass meine Schwester sich bei mir meldete, und hatte keine Adresse hinterlassen. Nach einem solchen Abschied konnte nie wieder alles gut werden. Nie hatte ich mich so elend gefühlt. Und niemals so frei.
    Jonah sah, wie schlecht es mir ging. Ich machte den Mund auf und wollte seine Frage beantworten, aber ich brachte kein Wort heraus. Rings um uns her dicker Zigarettenqualm, der Anisgeruch von salzigen schwarzen Lakritzbonbons, Werbeplakate für Produkte mit Preisen in exotischen Währungen, deren Wert ich nicht einmal erahnen konnte, unverständliche Lautsprecherdurchsagen, Lederkostüme und seltsam geschnittene pastellfarbene Kleider – ein einziger Schwindel erregender Strudel. Ich hatte kein Zuhause. Ich hatte meine Gefährtin verlassen. Ich hatte alles, was sicher und anständig war, aufs Spiel gesetzt. Es gab niemanden, der mich vor dem Alleinsein retten konnte, das mir seit jeher bestimmt war – nur meinen Bruder, und der war noch entwurzelter als ich. Ich öffnete den Mund. Ich schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen, aber es kam kein Ton.
    »Sie wird es überleben«, sagte Jonah; er legte mir den Arm um die Schultern und summte ein pulsierendes Organum, ebenso fremd wie alles andere. »Hier solltest du lieber kein Geld tauschen. Der reine Diebstahl. Celeste wartet beim Wagen. Wir stehen im Parkverbot. Ganz Europa steht im Parkverbot. Komm schon. Du musst sie unbedingt kennen lernen.«
    Wir bahnten uns einen Weg durch die karbolgeschwängerte Flughafenluft, hier mit einem Hauch von Menthol versetzt. Gesprächsfetzen schwappten über uns hinweg, Schnipsel von Nachrichtensendungen über den Untergang von Babel. Eine Gruppe von gespenstischen, strohgerahmten Windmühlengesichtern ließ mich Holländer denken, bis sie portugiesisch zu

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