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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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palavern begannen. Ein Häuflein dunkelhäutiger Schmuggler mit buschigen schwarzen Augenbrauenwülsten hielt ich für Albaner, aber sie beschimpften sich in einem dänischen Singsang. Tür-ken, Slawen, Hellenen, Tataren, kriegerische Hibernier: Allesamt nicht zuzuordnen. Ich kam mir vor wie in New York. Nur die Amerikaner waren auf den ersten Blick zu erkennen. Selbst wenn sie auf Litauisch brabbelten, erkannte ich meine Landsleute. Das waren die mit den weißen Schuhen und mit den J'AIME LA FRANCE -Aufklebern auf dem Bordgepäck.
    Jonah zerrte mich durch die Schalterhalle wie durch einen Film der Nouvelle Vague. Europa. Eigentlich hätte ich etwas fühlen müssen, einen Schock der Vertrautheit; schließlich hatte ich mein ganzes Leben damit verbracht, die Alte Welt in der Wildnis der Kolonien zu neuem Leben zu erwecken. Aber ich fühlte nichts. Man hätte mich ebenso gut mit dem Fallschirm über der Antarktis abwerfen können. Eine eisige Kälte kroch mir die Beine empor, als wir die Rolltreppe hinunterfuhren.
    Wir traten vor dem Terminal ins Freie. Die flandrische Frühlingsbrise erstickte mich fast. Ich brauchte Teresa wie die Luft zum Atmen. Und doch war ich absichtlich an einen Ort gekommen, an dem sie für mich unerreichbar war.
    Wir überquerten die Straße und steuerten dem Parkplatz zu. Jonah hielt den Verkehr in Schach, ein Karajan, der die dahingaloppierenden Berliner Philharmoniker mit gebieterischer Geste zu einem Ritardando bändigte. Die Reihen von Peugeots und Fiats kamen mir vor, als wären sie alle mit dem Gesicht zur Straße geparkt, kein Einziger länger als ein richtiges Auto breit war. Direkt vor uns verstauten ein Zigaretten rauchender Vater und eine elegante, aufgeregt gestikulierende Mutter ihre pastellfarbene Kinderschar in einen winzigen Kleinwagen. Fünf Spielzeugautos weiter lehnte eine mahagonifarbene Frau in einer blendend weißen Bluse und einem roten Wickelrock an einem grünen Volvo. Ich konnte den Blick nicht von ihr wenden. Die Farbkombination – rot wie die Sünde, weiß wie Schnee, grün wie Gras, und dazu die tiefbraune Haut – war wie die Flagge eines Landes, das gerade erst seine Unabhängigkeit erlangt hatte. Sie war atemberaubend, und drei Schattierungen dunkler als alles, was ich in Belgien erwartet hatte. Ich war davon ausgegangen, dass ich das auffälligste Wesen diesseits des Urals sein würde. Ich lächelte beim Gedanken an die provinzielle Landkarte in meinem Kopf. Wie auch immer diese Frau hierher gekommen war, der Weg, den sie zurückgelegt hatte, war mindestens so unwahrscheinlich gewesen wie der meine.
    Wir schleppten meine Koffer über die Straße und steuerten geradewegs auf die Frau zu. Ich bekam es mit der Angst zu tun, weil ich dachte, Jonah wolle sie ansprechen, obwohl seine französische Freundin irgendwo in Hörweite wartete. Ich schubste ihn an der Schulter, um ihn zum Kurswechsel zu bewegen, aber er schubste nur zurück. Nicht gleich am ersten Tag, dachte ich. Als wir nur noch zehn Schritte entfernt waren, zu nah um noch unauffällig beizudrehen, wandte die Frau sich um. Noch ehe ich meine Unschuld beteuern konnte, schenkte sie mir ein strahlendes Lächeln. »Enfin! Enfin!
    Jonah redete wie ein Wasserfall, ohne meine Tasche abzusetzen. »Dé-sole du retard, Cele. Il a eu du mal á passer la douane.«
    Sie antwortete mit einem sprudelnden Wortschwall, und ich verstand kein einziges Wort. Anscheinend freute sie sich über mein Kommen, aber auf ihn war sie wütend. Jonah amüsierte sich königlich. Ich völlig in der Luft, irgendwo zwischen den Azoren und Bermuda. Meine brünette Celeste mit der gestreiften Bluse und dem Schlapphut legte
    den hübschen Hals in die maßgeschneiderte Kerbe einer Guillotine und winkte zum Abschied. Ich streckte Celeste Marin die Hand entgegen, der einzigen Celeste, die es gab. Sie sagte etwas zur Begrüßung, aber ich hörte nur Laute. Ich murmelte »Enchante«, holpriger als der unbedarfteste Berlitz-Schüler. Sie kicherte, zog mich an sich und küsste mich viermal auf beide Wangen.
    »Settlement trois fois en Belgique!« Der Tadel meines Bruders klang makellos, unerbittlich wie ein Lied von Massenet. Dank jahrelangen Stimmtrainings war sein Gehör so gut entwickelt, dass er mühelos den Einheimischen mimen konnte. Celeste schimpfte wie ein Rohrspatz. So viel verstand ich. Aber als sie sich umwandte und mir eine komplizierte Frage stellte, die ich nicht mit einem einfachen oui oder non beantworten konnte, blieb mir nichts

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