Der Klang der Zeit
anders übrig als den Kopf zur Seite zu neigen und in möglichst weltmännischem Ton »Comment?« zu fragen.
Celeste war am Boden zerstört. Jonah lachte. »Das war Englisch, Muli, du krausköpfiger Einfaltspinsel.« Celeste warf meinem Bruder ein paar weitere Beschimpfungen an den Kopf. Er gurrte und schmeichelte. »Encore une fois.«
Jetzt, wo ich gewarnt war, verstand ich sie. »Wie fühlst du dich, zum ersten Mal in einem fremden Land?«
»Es ist ein vollkommen neuartiges Gefühl«, erwiderte ich.
Wir warfen das Gepäck in den Kofferraum und machten uns auf den Weg. Celeste saß auf dem Beifahrersitz, ich duckte mich auf die Rückbank. Wir fuhren fünfzig Kilometer weit auf einer Straße, die – abgesehen von den dreisprachigen Schildern und den Städten mit ihren ziegelgedeckten Häusern und gotischen Kirchtürmen – nicht viel anders aussah als die Interstate 95, und währenddessen bombardierte mein Bruder mich unablässig mit Fragen über die neuesten Entwicklungen in den Staaten. Die meisten konnte ich nicht beantworten. Hin und wieder wandte Celeste sich zu mir um und offerierte mir Käse und Orangen. Wenn sie sich danach wieder nach vorn drehte, starrte ich fasziniert auf ihre erstaunliche Haarpracht. Ich brauchte dreißig Kilometer, bis ich so viel Französisch hervorgekramt hatte, dass ich sie fragen konnte, woher sie stammte. Sie nannte den Namen einer Stadt – eine Aneinander-reihung wohlklingender Silben. Ich fragte noch einmal: Fort de France.
»Est-ce que cela est prés de Paris?«
Beinahe wäre mein Bruder auf den Mittelstreifen gefahren. »Nicht ganz, Muli. Martinique.«
Zum Glück dauerte die Fahrt nach Gent nicht lange. Freunde von Mijn-heer Kampen hatten ihnen ein Reihenhaus vermietet, das seit dem späten siebzehnten Jahrhundert nicht mehr verändert worden war. »Fünfzig Dollar im Monat. Sie wollen nur nicht, dass sich Hausbesetzer da einnisten. Es ist in der Brandstraat«, verkündete Jonah, »der Feuerstraße«. Der Gedanke schien ihm zu gefallen. Das Grundstück war so schmal, dass ein Cembalo mit zwei Manualen gerade hineinpasste. Aber das Haus war hoch, insgesamt vier Stockwerke. Mein Zimmer lag in der obersten Etage, ein Krähennest mit Bett, Waschbecken, Kommode und zwei Regalen voller Bücher, die ich nicht lesen konnte. Jonah begleitete mich nach oben und setzte sich einen Augenblick.
»Sie ist umwerfend«, sagte ich.
»Ich weiß.«
»Und was sagt sie zu deiner Arbeit?«
»Meiner Arbeit? Habe ich dir das nicht erzählt? Sie ist unsere Sopranistin.«
Ich vergrub mich in meiner Dachkammer und schlief zwei Tage lang. Als ich wieder zu mir gekommen war, sangen wir. Jonah nahm mich mit in ein umgebautes Lagerhaus zweihundert Meter von der Brandstraat, in dem Kampens Ensemble seinen Proberaum hatte. Hier zeigte mir mein Bruder, was mit ihm geschehen war. Er warf seine Strickjacke auf den blanken Fußboden, senkte die Schultern wie eine Leiche, die sich für die Seebestattung bereitmacht. Er rollte dreimal mit dem Kopf. Dann öffnete er seine stumme Kehle wie der silberne Schwan.
Ich hatte es vergessen. Vielleicht hatte ich es auch nie gewusst. In diesem leeren Lagerhaus sang er, wie ich ihn seit seiner Kindheit nicht mehr hatte singen hören. Selbst die letzte Unebenheit in seiner Stimme war wie weggebrannt, alle Unreinheiten beseitigt. Er hatte endlich einen Weg gefunden, wie er die Uressenz aus der unedlen Materie gewinnen konnte. Ein Teil von ihm hatte diese Erde bereits verlassen. Mein Bruder, der Preisträger, der Liederinterpret, der Solist der großen Symphonien, hatte zu seinem überwältigenden Nein gefunden. Er sang Perotin, Musik, die bei uns in der Schule allenfalls in den Geschichtsstunden vorgekom-men war, ein unförmiger Homunculus, die unfertige Vorstufe dessen, was danach kommen sollte. Bei Jonah war es genau umgekehrt: Er fand mehr Gutes in der Knospe als in der vollen Blüte. Er hatte die Frische des Immer entdeckt, des Beinahe. Bei ihm klang dieser Riesenschritt zurück in die Vergangenheit wie der Sprung in eine ferne Zukunft. Die Erfindung der Diatonik, alles, was nach dem Überschwang der musikalischen Pubertät geschehen war, war ein schrecklicher Fehler. Er hielt sich so eng an den Klang eines hölzernen oder metallenen Instruments, wie es die menschliche Stimme nur zuließ. Sein Perotin verwandelte das verlassene Lagerhaus in eine romanische Krypta, erfüllt von dem Klang eines Kontinents, der noch für ein weiteres Jahrhundert schlummern und ganz
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