Der Klang der Zeit
in sich ruhen sollte, eher er den Blick nach außen wandte und sich anschickte, die Welt zu erobern. Seine langen, getragenen Töne kannten nichts außer sich selbst und wiesen den Weg in eine erreichbare Unendlichkeit.
Seine Stimme war jung und unverbraucht. Er hatte alle Etiketten abgestreift, die andere ihm angeheftet hatten. In Amerika hatte er zu dunkel ausgesehen und zu hell geklungen. Hier im mittelalterlichen Gent verwischten sich Hell und Dunkel im Angesicht längerer Schatten. Seine Stimme griff nach etwas, das die Welt längst aufgegeben hatte. Was immer diese Töne einst bedeutet hatten, er gab ihnen einen neuen Sinn. Unsere Eltern hatten versucht uns für eine Zukunft zu erziehen, in der die Farbe nicht mehr zählte. Jonah hatte beschlossen, mit seinem Gesang in eine Zeit davor zu reisen, vor der Eroberung, vor dem Sklavenhandel, vor dem Genozid. Das kommt dabei heraus, wenn ein Junge die Geschichte nur aus dem Musikunterricht kennt.
Seine Stimme klang wie die Stimme des Kindes, mit dem ich einst gesungen hatte, damals beim Auftakt zu unserem Leben. Aber unter die kindliche Unbeschwertheit mischte sich ein düsterer Unterton, eine andere Form von Heiterkeit, der Klang der verlorenen Unschuld. Was einst Instinkt war, war jetzt höchste Kunst. Durch gezielte Lockerung hatte er seinen Stimmumfang nach oben erweitert. Doch schon lastete das Gewicht der Zeit auf seiner Stimme und zog sie hinab, der Erde und dem Vergessen entgegen. Schon auf dem Höhepunkt gab es erste Anzeichen für die Mattheit, die Patina, die jede Stimme im Laufe der Zeit ansetzt. Aber seine Töne kamen mit einer schlafwandlerischen Sicherheit, präzise wie Radar, wie ein meditierender Mönch, der in seiner einsamen Zelle plötzlich schwerelos schwebt.
Er zeigte mir seine neue Stimme wie eine kaum verheilte Wunde. Er war wie jemand, der ein Unglück überlebt hat und danach vollkommen verändert ist. Er sang nur dreißig Sekunden lang. Sein Gesang war zurückhaltender als früher, sodass er sich überall einfügen konnte und doch unüberhörbar präsent blieb. Alles, was mit uns geschehen war, und alles, was niemals geschehen würde, war mir wieder gegenwärtig, und die Erinnerung trieb mir die Tränen in die Augen. Dieses eine Mal machte er sich nicht über mich lustig, sondern stand einfach nur da, mit gesenkten Schultern, den Kopf in die Richtung geneigt, in die der Ton entschwunden war. »Jetzt du, Joey.«
»Nein. Nie im Leben.«
»Genau. Das Nie ist genau das, worauf es ankommt.«
Er arbeitete mit mir, zwei ganze Tage lang. Erst nach Stunden ließ er mich zum ersten Mal einen Ton singen. Er führte mich zurück zu den Wurzeln, weckte meine Erinnerung. »Mach dich frei von allem. Erst wenn du alles loslässt, merkst du, was du mit dir herumschleppst. Lass deinen Körper locker am unteren Ende des Nackens baumeln. Früher hast du genau gewusst, wie das geht. Ein Baby hat eine bessere Körperhaltung als jeder Erwachsene. Verkrampf dich nicht«, flüsterte er von seinem Beobachtungsposten über dem Schlachtfeld. »Du denkst viel zu viel. Sei einfach nur da. Lass los. Lass dich fallen, sei eins mit dir selbst.« Er öffnete mich von innen heraus, bis ich nur noch eine leere Röhre war. Der mühsame Weg zur Mühelosigkeit. Wir arbeiteten tagelang, bis ich ihn nicht mehr hörte, nur noch eine Stimme in meinem Inneren, die immer wieder sagte: Mach ein Instrument aus deiner Ruhe.
Am dritten Tag sagte er: »Atme aus und sing einen Ton.« Mittlerweile wusste ich, dass ich nicht fragen durfte welchen. Er versetzte mich aus einer Trance der Ruhe in schlichte Schwingungen. »Die Stimmgabel Gottes!« Er wollte nichts weiter als eine solide Basis. Er verwandelte mich in einen einsamen Menhir auf grünem Feld; ich war sein Fundament, sein Bass, der Fels, auf dem er seine vollkommenen Luftschlösser bauen konnte.
Alles, was ich über das Singen wusste, war falsch. Zum Glück wusste ich nichts. Jonah bestand nicht darauf, dass ich alles vergaß, was ich je über Musik gelernt hatte. Nur alles, was man mir seit dem Verlassen unseres häuslichen Klassenzimmers beigebracht hatte.
Er hieß mich den Mund öffnen, und zu meinem Erstaunen kam ein Ton heraus. Ich hielt den Ton vier Takte lang, dann acht, dann sechzehn. Eine Woche lang sangen wir nur lang angehaltene einzelne Noten, dann noch eine Woche, so lange, bis ich alles Gefühl für die Zeit verlor. Wir sangen
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