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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Koloraturen, die sie sang, klangen für ein Mädchen ihres Alters und ihrer Größe unnatürlich, ja grotesk. Sie waren das genaue Gegenteil jener unbeschwerten Freude am Singen, die unsere Eltern in uns geweckt hatten. Lange Zeit fürchtete ich, allein ihre Stimme könne Jonah vertreiben.
    Eines Sonntagnachmittags sah ich die beiden auf der Treppe zum Haupteingang sitzen. Mein Bruder und ein bleiches Mädchen zusammen auf einer Treppenstufe: Ein Bild, so verblasst wie alle Farbfotos aus den Fünfzigern. Kimberly Monera sah aus wie ein Becher neapolitanische Eiscreme. Ich fand, ich sollte ein Stückchen Pappe unterschieben, damit ihr Taft nicht auf den Stufen schmolz.
    Ehrfürchtig hörte ich zu, wie diese Ausgestoßene für Jonah sämtliche Verdi-Opern aufzählte, alle siebenundzwanzig von Oberto bis Falstaff. Selbst die Entstehungsjahre kannte sie allesamt. So wie sie davon schwärmte, schienen diese Opern Sinn und Zweck aller menschlichen Kultur. Ihr Akzent, jede einzelne Silbe mit der Zunge gerollt, kam mir italienischer vor als alles, was wir je von Schallplatten gehört hatten. Anfangs dachte ich, sie wollte nur prahlen. Dachte, mein Bruder hätte sie dazu angestachelt. Zuerst hatte sie sogar abgestritten, dass sie überhaupt etwas über Verdi wisse, hatte meinen Bruder reden lassen, hatte gelächelt über all die kleinen Fehler, bis sie Gewissheit hatte, dass sie Jonah ihr Wissen anvertrauen konnte, dass er nicht die Gefahr war, die andere Schüler für sie gewesen wären. Und dann hatte sie losgelegt und aus beiden Rohren gefeuert.
    Als Kimberly Monera zeigte, was sie konnte, hatte Jonah sich zu mir umgedreht und mich angesehen: Wir waren Hinterwäldler, Amateure. Wir hatten keine Ahnung. Unsere armselige Privatausbildung reichte nicht einmal halbwegs aus für die große Welt der internationalen Kunst. Seit dem Tag, an dem unsere Eltern uns den Plattenspieler geschenkt hatten, hatte ich ihn nicht mehr so in Panik gesehen. Kimberlys Beherrschung des Repertoires ließ bei Jonah alle Alarmglocken schrillen. Den ganzen Nachmittag lang fragte er das arme Mädchen aus, zerrte sie an ihren weißen Haaren zurück, wenn sie aufstehen und gehen wollte. Und das Schlimmste war, dass Kimberly Monera sich all seine Grausam-keiten gefallen ließ. Hier saß sie mit dem besten Knabensopran der Schule, dem Jungen, den der Direktor von Boylston beim Vornamen nannte. Es muss ihr unendlich viel bedeutet haben, dieser kleine Fetzen selbstsüchtiger Freundlichkeit.
    Ich saß zwei Treppenstufen über ihnen und sah zu, wie sie ihre Geiseln austauschten. Es war ihnen beiden lieb, dass ich dort saß, alles im Blick behielt und sie warnte, wenn ein alltäglicheres Kind sich näherte. Als der Quell ihrer Gelehrsamkeit versiegte, spielten wir zu dritt Zitateraten. Es war das erste Mal, dass jemand, der nicht älter war als wir, uns dabei schlug. Jonah und ich gruben tiefer und tiefer in der Erinnerung an unsere Familienabende und fanden trotzdem nichts, was die pastell-farbene Monera nicht binnen zwei Takten erkannte. Selbst wenn sie etwas noch nie gehört hatte, konnte sie fast immer die Herkunft bestimm men und erriet den Komponisten.
    Ihr Geschick nahm mir den Mut, und meinen Bruder machte es wü- tend. »Das ist nicht fair. Du weißt es überhaupt nicht. Du rätst nur.«
    »Es ist nicht geraten«, sagte sie. Schon da bereit, für ihn aufzugeben, was sie wusste.
    Er schlug mit der Hand auf die Stufe, halb wütend, halb auftrumpfend. »Das könnte ich auch, wenn meine Eltern weltberühmte Musiker wären.«
    Ich starrte ihn an, entgeistert. Er begriff gar nicht, was er da gesagt hatte. Ich beugte mich vor, fasste ihn an der Schulter und wollte ihn daran hindern, dass er Schlimmeres sprach. Mit diesen Worten verletzte er die Natur – wie Bäume, die nach unten wuchsen, oder Feuer am Meeresgrund. Etwas Schreckliches würde geschehen, eine Strafe für dieses Vergehen. Ein Studebaker würde gleich auf den Bürgersteig schleudern und würde uns zermalmen, gerade da, wo wir saßen und spielten.
    Aber das Einzige, was an Strafe kam, war ein Beben in Kimberly Mo-neras Unterlippe. Sie vibrierte, ein bleicher, blutloser Regenwurm auf Eis. Am liebsten hätte ich hingefasst und sie festgehalten. Jonah bemerkte es gar nicht und bedrängte sie weiter. Er würde nicht locker lassen, bis sie ihm den Zaubertrick verraten hatte. »Wie kannst du wissen, von wem ein Stück stammt, wenn du es noch nie gehört hast?«
    Ihr Gesicht gewann die Fassung zurück.

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