Der Klang der Zeit
Ich konnte sehen, wie der Gedanke sich formte, dass sie ihm doch noch nützlich sein konnte. »Nun, als Erstes schließt man aus dem Stil, von wann es stammt.«
Ihre Worte waren wie ein Schiff, das am Horizont auftauchte. Es war ein Gedanke, der Jonah genau genommen noch nie gekommen war. Auch wenn er noch so sehr im Fluss der Noten schwamm, auch wenn die Harmonien noch so sichere Ufer bildeten, waren sie doch verankert in der Zeit. Mein Bruder ließ die Hand über das Eisengeländer gleiten. Jetzt, als ihm das aufging, schämte er sich für seine Einfalt. Die Musik selbst, nicht nur ihre Rhythmen, gehorchte den Gesetzen der Zeit. Ein Stück war das, was es war, nur durch all die Stücke, die vor ihm und die nach ihm entstanden waren. Jedes Lied besang den Augenblick seiner Entstehung. Alle Musik redete miteinander, unablässig.
Es war ein Faktum, das wir nie von unseren Eltern gelernt hätten, nicht in einem ganzen Leben gemeinsamen Gesangs. Unser Vater wusste mehr als jeder andere Mensch über das Geheimnis der Zeit; das Einzige, was er nicht wusste, war, wie man in der Zeit lebte. Seine Zeit bewegte sich nicht, sie war eine Ansammlung von Augenblicken, von denen jeder Einzelne im Jetzt still stand. Für ihn hätten die tausend Jahre westlicher Musik allesamt erst gestern Morgen geschrieben sein können. Mama sah es genauso; vielleicht war es das, was die beiden zusammenhielt. Unsere verrückten Melodienspiele gingen ja davon aus, dass zu jedem Ton des Augenblicks die gesamte Musikgeschichte als Kontrapunkt zur Verfü-gung stand. An einem Abend in Hamilton Heights sprangen wir vom Organum zum Atonalen ohne auch nur eine Spur der Jahrhunderte, die dazwischen ihres blutigen Todes gestorben waren. So wie wir aufge-wachsen waren, schien das Leben ein Takt ohne Anfang und ohne Ende. Aber nun hatte dies pastellfarbene Eiscrememädchen eine Schleuse geöffnet, und die Töne bewegten sich in der Zeit.
Die Schnelligkeit, mit der Jonah das alles verstand, war phänomenal. An diesem einen Nachmittag, als er in Khakihosen und rotem Flanellhemd auf der Treppe der Boylston-Akademie neben der bleichen Kim-berly in ihrem steif-eleganten Taftkleid saß, lernte er mehr als in seinem gesamten ersten Jahr auf der Schule. Auf einen Schlag begriff er, was die zeitlichen Zuordnungen, die wir ja vom Hören her längst kannten, bedeuteten. Jonah verschlang alles, was das Mädchen anzubieten hatte, und wollte immer noch mehr. Und sie machte weiter, bis sie nicht mehr konnte. Kimberly wusste so viel über Musiktheorie, dass es selbst bei einem älteren Kind unglaublich gewesen wäre. Sie konnte Dinge beim Namen nennen, Dinge, die mein Bruder wissen musste und die Boylston viel zu langsam preisgab. Am liebsten hätte er dieses Mädchen aus-gepresst, bis sie jeden Tropfen Musik, den sie in sich hatte, preisgegeben hatte.
Wenn sie Melodien sang, die wir erraten sollten, war mein Bruder gnadenlos. »Jetzt sing doch mal vernünftig. Wie sollen wir denn hören, was das ist, bei einer ganzen Oktave Vibrato? Du hörst dich an, als hättest du einen Außenbordmotor verschluckt.«
Wieder zeigte die Unterlippe ihr beängstigendes Tremolo. »Ich singe vernünftig. Du kannst nur nicht vernünftig zuhörenl«
Ich raffte mich auf und wollte fliehen, zurück ins Haus. Schon da liebte ich dieses Mädchen aus fernen Zeiten, aber ich war der Sklave meines Bruders. Für mich war bei dieser ganzen Geschichte ein früher Tod die einzige Hoffnung. Ich hatte nicht vor dazusitzen und zu warten, bis die Katastrophe kam. Aber ein einziger Blick von meinem Bruder ließ meine Beine einknicken. Er packte Kimberly an beiden Schultern und sang seinen besten Caruso, die Rolle des Canio im Bajazzo, bis hin zu dem irren theatralischen Lachen. Sie konnte nicht anders, sie musste lächeln.
»Ach, Chimera! Das war doch nur ein Witz, stimmt's, Joey?« Ich nickte so eifrig, dass mir schwindlig davon war.
Kimberly strahlte, als sie so unvermutet zu einem Spitznamen kam. Ihre Züge hellten sich auf, wie Beethovens Gewitterwolken mit einem einzigen Akkord verschwanden. Sie würde ihm alles verzeihen, immer. Das wusste er schon damals.
»Chimera. Gefällt dir das?«
Sie lächelte, doch so dezent, dass noch ein Nein daraus werden konnte. Ich wusste nicht, was eine Chimäre war. Und Jonah und Kimberly auch nicht.
»Schön. Dann nennen wir dich von jetzt ab alle so.«
»Nein!«, rief sie erschrocken. »Nicht alle.«
»Nur Joey und ich?«
Sie nickte, nur eine Andeutung. Ich
Weitere Kostenlose Bücher