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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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habe sie nie bei diesem Namen genannt. Kein einziges Mal. Der Name gehörte meinem Bruder, ihm allein.
    Kimberly Monera blickte uns mit zusammengekniffenen Augen an, ein wenig berauscht von ihrem neuen Titel. »Ihr zwei, seid ihr Mohren?« Sprach ein mythisches Geschöpf zum anderen.
    Jonah sah mich fragend an, doch ich hob wehrlos die Hände. »Das kommt«, antwortete er, »drauf an, was das ist.«
    »So richtig weiß ich das auch nicht. Früher gab es sie in Spanien, und dann sind sie, glaube ich, nach Venedig gegangen.«
    Jonah sah mich an und schnitt eine Grimasse. Mit dem Zeigefinger machte er kleine kreisende Bewegungen an seinem Ohr, damals das Zeichen für jene abenteuerlichen Windungen des Geistes, die unsere Schulkameraden »bescheuert« nannten.
    »Sie sind ein dunkleres Volk«, erklärte sie. »Wie Othello.«
    »Fast schon Abendessenszeit«, sagte ich.
    Jonah beugte sich vor. »Chimera? Das habe ich dich schon immer fragen wollen. Bist du ein Albino?«
    Das Lachsrosa, das sie daraufhin annahm, sah gespenstisch aus.
    »Weißt du, was die sind?«, fuhr mein Bruder fort. »Die sind ein helleres Volk.«
    Das Wenige, was Italien ihr an Farbe mitgegeben hatte, wich aus Kim-berlys Gesicht. »Meine Mutter war früher auch so. Aber die ist später dunkler geworden!« Sie betete die Lüge nach, die sie von ihren Eltern seit dem Tag ihrer Geburt zu hören bekam, dabei wusste sie längst, dass sie nie wahr werden würde. Wieder begann ihr Körper zu beben, und wieder rettete mein Bruder sie aus dem Feuer, das er selbst entfacht hatte.
    Als wir endlich aufstanden, um ins Haus zurückzugehen, blieb Kimberly Monera mitten im Schritt stehen, die Hand in der Luft. »Irgendwann wisst ihr alles, was ich über Musik weiß, und noch mehr dazu.« Die Prophezeiung machte sie unendlich traurig, als sei sie bereits am Ende ihrer gemeinsamen Wegstrecke angelangt, als habe sie sich schon jetzt der Unersättlichkeit geopfert, mit der Jonah alles verschlang, um daran zu wachsen, die erste von vielen Frauen, die ausgelaugt von der Liebe zu meinem Bruder ins Grab gingen.
    »Unsinn«, sagte er. »Bis Joey und ich dich eingeholt haben, bist du doch schon ganz oben.«
    Sie waren zwei seltsame Gefährten, zusammengebracht von nichts als dem Verständnis füreinander. Und selbst für diesen stillschweigenden Bund hasste unsere Kinderstadt sie. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass Jungs sich nicht mit der fremden Welt der Mädchen einließen, außer in den kurzen, unvermeidlichen Kontakten mit Schwestern oder Gesangpartnerinnen. Es ging nicht an, dass der beste Sänger der Schule sich, auch wenn er noch so dubioser Abstammung war, mit dieser unnahbaren Prinzessin des Grotesken einließ. Lange glaubten Jonahs Klassenkameraden, dass er sich insgeheim über Kimberly lustig mache, um sie dann vor aller Augen bloßzustellen. Als das Spektakel ausblieb, wollten sie ihn mit Spott in ihr Lager zurückholen. »Arbeitest du jetzt für den Tierschutzverein?«
    Mein Bruder lächelte nur. Isoliert, wie er selbst war, begriff er gar nicht, was er riskierte. Es war ja gerade diese Sorglosigkeit, der er die Höhenflüge seines Knabensoprans verdankte. Wenn das einzige Publikum, für das zu singen sich lohnte, die Musik selbst war, dann kannte eine Stimme keine Skrupel.
    Wir waren Kimberlys Mohren, ein Stein des Anstoßes für ganz Boyls-ton. Einmal fand er einen Zettel: »Such dir ein Negerliebchen.« Wir lachten über die Kritzelei und warfen sie fort.
    Als unsere Eltern uns zu den Weihnachtsferien abholten, wieder in einem chromblitzenden Leihwagen – Mutter wie immer auf dem Rücksitz, zum Schutz gegen Verhaftung oder Schlimmeres –, kam Jackie Lartz und sagte uns in dem fast schon entvölkerten Aufenthaltsraum Bescheid. »Euer Vater und eure Kinderfrau sind hier, und ein Kleines von ihr.« Seine Stimme hatte jene kindliche Schärfe: ein halb schüchternes, halb herausforderndes Widersprich doch, wenn du dich traust. Mein ganzes Leben habe ich mit der Frage verbracht, warum ich mich nicht getraut habe. Warum ich nicht widersprochen habe. Die Gründe, die mein Bruder hatte, sind mit ihm ins Grab gegangen. Aber was immer wir an Sicherheit erlangen, was immer an Auseinandersetzung vermeiden wollten, fest stand, dass wir in diese Ferien ein gutes Stück weiser fuhren, als wir angekommen waren.
    Mama verwöhnte uns die ganze Woche lang. Ruthie wich uns nicht mehr von der Seite, aus Furcht, wir könnten abreisen, bevor sie uns all ihre Abenteuer der

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