Der Klang der Zeit
Lederhosen durchaus glaubwürdig. Der Zauber der Bühne lässt den bernsteinfarbenen Jungen und seine blonde, anämische Schwester einander ähnlich werden, die Dämmerung bricht ein und verwischt die Unterschiede. Sie knien in der Dunkelheit, suchen Zuflucht im Gebet, einer Form von Magie, die schon längst zum Ritual erstarrt war, als die Kunde von dem jüdischen Jesus erstmals in diese nördlichen Wälder drang. Die zitternde Gretel faltet die Hände und drückt sie an die winzigen Knospen ihrer Brüste. Ihr Bruder kniet an ihrer Seite, und seine Hand liegt in der Senke in ihrem Kreuz. Unsichtbar für die Augen des Publikums lässt er sie an manchen Abenden südwärts wandern, über den Hügel, der sich ihr entgegenwölbt. Abends will ich schlafen geh'n, vierzehn Engel um mich steh'n. So nimmt mein Bruder Abschied von seiner Kindheit, mit einer Reihe von Bühnenauftritten. Schlafend im Wald, an ein blondes Wesen geschmiegt, umringt von Schutzengeln. Zwei zu meinen Häupten, zwei zu meinen Füßen. Welche Farbe haben die Engel? Keiner kann es sagen, hier im Dämmerlicht. Jahre später, als wir uns die Zeit vor einem Konzert in einem Antwerpener Kunstmuseum vertreiben, entdeckt er die Wesen, die ihn damals beschützten: Mit Flügeln in allen erdenk-lichen Farbtönen schweben sie in der farblosen Luft.
Nur in der Oper brauchen die Engel eine Haut. Nur in der Oper und in der Phantasie. Einer der vierzehn Sänger, die diesen Schirm aus Engeln bilden, ist Hänsels Bruder. Zusammen mit den anderen spinnt er einen Kokon der Sicherheit um diese beiden Unschuldigen. Ich bin der dun-kelste von allen, ein Ärgernis, so fehl am Platze in meinem wallenden weißen Gewand wie mein Bruder in seiner Lederhose. Ich kann mein eigenes Gesicht nicht sehen, aber ich weiß, wie es wirken muss. Ich sehe den Misston in den Augen der Engelschar: ein lächerlicher Eindringling, der Sendbote eines verlorenen Stammes.
Der Junge legt sich zur Ruhe unter dem schützenden Schild, den wir Engel über ihn breiten, als sei es ein universelles Privileg der Kindheit: ein Spaziergang im Wald, behütet von einem Chor, der das Duett der Verirrten aufgreift und mit satten, kräftigen Harmonien fortführt, selbst dann noch, als er und seine Gretel zitternd vor Anspannung längst so tun, als ob sie schlafen. Der Wald und seine gestohlenen Beeren gehören ihm; Abend für Abend kann er sich mit diesem Mädchen ungestraft in der Finsternis verlieren. Doch die Rache folgt auf dem Fuße, im letzten Akt. Die Mutter aus dem ersten Akt, der harte Mezzosopran, von Armut gezeichnet und aus Not dazu getrieben, ihre tanzenden Kinder aus dem Haus zu jagen, kehrt zurück, diesmal in der Rolle der Kinder fressenden Hexe.
Der schlaue Hans tut was er kann, um unsere wirklichen Eltern von unserem Operndebüt fern zu halten. Er will sie beschützen, vor den Fallstricken der Aufführung. Vielleicht schämt er sich seines Aussehens, seiner Rolle. »Es ist gar nicht so toll«, sagt er. »Eigentlich nur was für Kinder.« Aber unsere Eltern würden sich diese Premiere um nichts in der Welt entgehen lassen. Natürlich müssen sie kommen und mit eigenen Augen sehen, was ihre Kinder so treiben. Pa bringt den Fotoapparat mit. Mama sieht aus wie eine Königin, in ihrem kobaltblauen Kleid und dem Lieblingshut mit Federschmuck und Schleier. Sie hat etwas mit ihrem Gesicht angestellt, trägt selbst eine Art Bühnen-Make-up. Sie riecht wie ein Baby.
An dem Abend, an dem sie kommen, leuchtet das Knusperhäuschen mehr als sonst: zuckersüße Versuchungen, ein Kindertraum vom Himmel. Aber heute, wo seine Eltern im Publikum sitzen, verschlägt es dem kleinen Hans den Appetit. Er sieht ihre Silhouetten trotz des grellen Rampenlichts, dieses Paar, das sich in der Öffentlichkeit nicht berühren darf. Er sieht seine echte Schwester mit ihren krausen Haaren, schockiert von dieser Zuckerschönheit, die Augen weit aufgerissen angesichts des verwunschenen Waldes, die Hand sehnsüchtig oder abwehrend ausgestreckt.
Hänsels echte Mutter muss still sitzen und zusehen, wie die Geschichte alle Mütter in Hexen verwandelt. Sein Vater muss stillhalten und zusehen, wie diese deutsch singende Hexe versucht, sein dunkles Kind einzufangen und es in den Ordnung schaffenden Ofen zu stoßen. Der Junge sucht Trost bei seiner Gretel, aber heute wagt er nicht, ihre dirndlgeschnürte Taille zu berühren. Trotzdem muss er bei ihr bleiben, seiner Bühnenschwester, seiner albinoweißen Waldgefährtin, auch wenn
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