Der Klang der Zeit
öffnen. Rasse war ein Ort, an dem er sich nicht auskannte, keine brauchbare Koordinate, keine Himmelsrichtung. Seine Leute, das war seine Familie, seine Kaste, er selbst. Der schillernde, nicht zuzuordnende Jonah Strom, der Erste aus der großen Zahl von Ein-Mann-Nationen, die die zukünftige Welt bevölkern sollten.
»Geh weg von mir, geh weg von mir. Ich bin der stolze Hans!« Er ist der Einzige, der nicht sehen kann, wie er wirkt, da oben auf der Bühne, in seinem Trachtenanzug aus Polyester – bügelfreie Lederhosen und Kniestrümpfe, auf dem Kopf eine Zipfelmütze aus grünem Filz. So stellt sich die akademisch geschulte Kostümbildnerin aus bester Familie die grimmsche Märchenwelt vor dem Holocaust vor. Ein bernsteinfarbenes, ägyptisch anmutendes Kind, ein gerade frisch von Bord gegangener Puertoricaner, mitten in diesem rheinischen Meisterwerk ewiger Kindheit. Ein schwarzes, jüdisches Zigeunerkind mit dunkelrotem Lockenschopf steht in einer armseligen Sperrholzhütte – Armut aus dem Bilderbuch – und singt: »Arbeiten? Brrr. Wo denkst du hin?« Doch wenn er singt: Wenn der schlaue Hänsel singt! Dann achtet keiner mehr auf solche Misstöne, und alle lauschen nur noch gebannt dem Klang seiner Stimme.
Er sieht seine eigenen Arme und Beine aus dem Phantasiekostüm herausragen. Aber er sieht nicht, wie wenig das Kostüm zu ihm passt, wie ungeheuer der Widerspruch ist, den er dem Publikum zumutet. Das Kostüm sitzt gut; die Hosenträger ziehen die Hose im Schritt stramm in die Höhe. Beim Tanzen vermischt sich die Reibung des Stoffs mit der Anziehungskraft seiner Gretel, die ihm geduldig die Tanzschritte beibringt. Seine Partnerin bei diesen Auftritten ist Kimberly Monera, das erste Objekt der Sehnsucht für meinen Bruder. »Mit den Füßchen tapp tapp tapp.« Ihre Blondheit ist wie ein Sog. »Mit den Händchen klapp klapp klapp. Einmal hin, einmal her, rund herum, es ist nicht schwer!«
Die Macht, die seine Schwester-Partnerin über ihn hat, die Wärme, die seinen Atem beflügelt, durchströmt ihn die ganzen drei Akte lang und gibt seiner Stimme Kraft. Blinder Eifer von einer solchen Intensität, dass er allen Wechselfällen der Bühne trotzt. Begierig saugt er auf, was seine Schwester ihn lehrt; sie legt den Grundstein für seinen lebenslangen Hang zu allem Kleinen und Leichten und Hellen. Und als seine Gretel, seine entzückende Tanzlehrerin, in einem seltenen Anflug von Lampen-fieber ins Stocken gerät, ist er zur Stelle und gibt ihr den Mut zurück, den sie ihm verliehen hat.
Es hätte auch eine andere Blondine sein können. Aber es ist die Chimäre, mit der er sich in diesem nächtlichen Wald zur Ruhe legt, in diesem geschlossenen Zirkel spürt er zum ersten Mal den Zauber. Sie ist seine Waldkönigin; er hält ihre bleiche Hand, und sie tröstet ihn auf der finsteren Bühne der Kindheit, die das Ich noch nicht erkennt.
In dem Wald lauert Gefahr. Das müssen die pflichtvergessenen Eltern in jeder Aufführung neu entdecken, nachdem sie ihre ahnungslosen Kinder an den verwunschenen Ort geschickt haben, wo sie das Böse mit eigenen Augen sehen. Eine Knusperhexe, die Kinder in einen eigens dafür errichteten Ofen steckt, verbirgt sich im Dickicht und wartet nur darauf, dass man sie entdeckt. Sie ist das Verhängnis, dem die Bühneneltern das Geschwisterpaar ausliefern, Abend für Abend, und jedes Mal tun sie, als hätten sie keine Ahnung.
Kinder, Kinder?, fragt der Wald. Habt ihr denn keine Angst? Manchmal, wenn die Kuckucksrufe im endlosen Raum widerhallen, spürt der schlaue Hänsel die Furcht, die seine Gretel erbeben lässt. Der zarte Flaum auf ihren Armen ist feucht vor Angst, einer Angst, die köstlicher ist als alles, was ihm jemals danach begegnen wird. Der Junge nimmt ihr die Angst mit den Fingerspitzen, berührt einfach ihren feuchten Arm. Ihr Entsetzen zieht ihn magisch an. Wie eng sie sich aneinander schmiegen müssen, verirrt unter diesen Bäumen, die Beeren aus ihren Körbchen längst aufgegessen, wenn sich Dunkelheit über ihre kindliche Verlassen-heit senkt und kein Weg mehr weiterführt, nur noch tiefer hinein. Sie sieht ihn nicht an, blickt hinaus in die Dunkelheit des Saales, heftig atmend, eingeschnürt in das blumenbestickte weiße Mieder ihres Dirndlkleids, und wartet auch an diesem Abend auf den seltsamen Schmerz, auf jede neue zufällige Berührung.
Im geheimnisvollen Nachtlicht – eine blaue Scheibe liegt über dem starken Bühnenscheinwerfer – wirkt der kleine Araber in
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