Der Klang der Zeit
vergangenen vier Monate erzählt hatte. Sie machte mich nach, meinen stolzierenden Gang, die lächerliche Gelehrsamkeit, die sich in meine Stimme geschlichen hatte. Pa wollte alles genau wissen, alles was ich in Boylston gelernt hatte, alles was ich getan hatte, als er nicht dabei war. Ich versuchte ihm zu berichten, und trotzdem kam ich mir vor, als belöge ich ihn durch das, was ich ausließ.
Als wir nach Boston zurückkehrten, wussten wir zumindest, was uns erwartete. Doch wenn wir zwei durch unsere Mohrenfarbe gebrandmarkt waren, dann zeichnete die Tochter des berühmten Dirigenten ein Makel, der beinahe ebenso schlimm war. Sie stand für das Ausgestoßensein der Albinos überall auf der Welt. Die herrschende Kaste, die blutleer und schwachköpfig geworden war. Selbst ihre altklugen Mitschüler mieden sie. Sämtliche Verdi-Opern mit dreizehn, in chronologischer Reihenfolge: Auch der gelehrigste Schüler dieser Schule musste zugeben, dass das abstrus war.
Aber gerade dieses Abstruse liebte mein Bruder an ihr. Kimberly Monera bestätigte ihm etwas, das er schon lange vermutet hatte: Das Leben war seltsamer als jedes Libretto. Im Winter nach unserer Rückkehr brachte sie ihm das Partiturlesen bei und zeigte ihm, wie man all die kunstvoll verwobenen Klangfäden auseinander hielt. Zum Valentinstag bekam er von ihr seine erste eigene Partitur, ein schüchtern, verstohlen zugestecktes Geschenk, in Goldfolie eingepackt: Brahms' Deutsches Requiem. Er hatte es immer auf dem Nachttisch neben seinem Bett liegen. Abends, wenn das Licht im Saal gelöscht war, fuhr er mit dem Finger über die erhabenen Notenlinien und versuchte, die Töne darauf zu ertasten.
»Es ist entschieden«, eröffnete Jonah mir an einem kalten Märzabend mit drei Vierteln meines ersten Boylston-Jahres hinter mir. Unsere Eltern hatten János Reményi eben davon abgehalten, Jonah zum Vorsingen bei Menotti anzumelden, der für die NBC-Fernsehaufnahme seiner Oper einen Amahl suchte; sie träumten noch immer von einem halbwegs normalen Leben für ihr so anomales Kind. »Wir haben uns alles überlegt.« Aus seinem Portemonnaie holte er ein Bild, das Kimberly ihm geschenkt hatte: Ein kleines Mädchen im Schürzenkleid, aufgenommen vor der Mailänder Scala. Der sichtbare Beweis für den Bund fürs Leben. »Chimera und ich wollen heiraten. Sobald sie alt genug ist, dass sie nicht mehr die Einwilligung ihres Vaters braucht.«
Nach diesem Tag hatte ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich Kimberly Monera auch nur ansah. Und wenn ich es doch einmal tat, wandte sie stets den Blick ab. Ich konnte sie nicht mehr lieben, konnte nicht mehr wider alle Vernunft hoffen, dass die Welt oder einer von uns vielleicht doch anders war als wir nun einmal waren. Aber ein wenig Stolz spürte ich auch über unsere neue, geheime Gemeinsamkeit. Nun gehörte sie zu unserer kleinen Nation, unserer eigenen Rasse. Der Tag würde kommen, an dem sie mit unserer Familie sang. Wir würden sie mit nach Hause nehmen und sie Mama und Pa vorstellen, und dann würden wir ihr zeigen, wie man auch singen konnte, entspannt und mit Schwung.
Jonah und Kimberly zelebrierten ihre Verlobung mit der tödlichen Ernsthaftigkeit, die man nur in so jungen Jahren und beim ersten Mal kennt. Ihr Pakt machte uns drei zu Verschwörern. Keiner durfte das Geheimnis wissen außer uns, aber es war ein so großes Geheimnis, dass uns der Kopf davon schwirrte. Allerdings sahen, nachdem Jonah mir das Verlöbnis offiziell mitgeteilt hatte, er und Kimberly sich noch seltener als die wenigen Male, die sie zuvor zusammen gewesen waren. Er kehrte zu unserer Ordensburg auf dem Dach zurück, Kimberly zu ihren einsamen Partiturstudien. Die Schule tat ihr Möglichstes, beide zu ignorieren. Ihr großes geheimes Verlöbnis ging in den Untergrund. Sie war ihm versprochen, und das war damit geklärt. Denn wenn zwei ahnungslose Dreizehnjährige sich ewige Liebe geschworen hatten, was konnten sie dann noch tun ?
MEIN BRUDER ALS HÄNSEL
Hielt der Knabensopran sich etwa auch für einen Weißen? Noch war das Wort ihm ebenso fremd wie seine Bedeutung. Zugehörigkeit? Was sollte Jonah Strom mit etwas anfangen, das mit ihm nichts anzufangen wusste? Sein Ich brauchte kein Meer, in das es münden, kein Sammelbecken, in dem es verströmen konnte. Er war der Junge mit der Zauberstimme; frei wie ein Vogel und wandelbar wie das Licht, glaubte er, der Glanz seiner Begabung werde ihm wie ein Diplomatenpass stets alle Türen
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