Der Klang der Zeit
»Das ist das Leben. Alles was man sich wünschen kann.«
»Was bringst du ihnen an Musik bei, deinem vierten Schuljahr? Was lernen sie bei dir?«
»Kindergarten bis dritte Klasse. Und bei mir lernen sie alles.«
»Tatsächlich? Alles?«
»Du weißt schon. Die guten Sachen. Töne in der Zeit.«
»Was ist das für ein Alles?« Es war zu spät, mich noch zu ducken. Er beobachtete mich. Aber er schaute auch auf die Uhr, schon auf dem Sprung.
»Ich gebe ihnen, was ihnen gehört. Ihre Musik. Ihre Identität.«
»Was gehört ihnen denn, Joey? Und kannst du es ihnen geben? ... Du gibst ihnen ihre Musik? Ihre Identität? Womit sollen sie denn identisch sein? Das Einzige, womit man identisch ist, ist man selbst, und auch das nur an den besseren Tagen. Stereotypen, das gibst du ihnen. Aber kein Mensch ist ein anderer. Ihre Musik ist genau das, was ihnen keiner geben kann. Viel Glück beim Suchen.«
Ganz tot war er doch noch nicht. Der Pakt war unterzeichnet, besiegelt, aber der Teufel hatte seine Seele noch nicht geholt. Ich fasste ihn am Ellbogen, um ihn zu beruhigen. »He, Maestro. Reg dich ab. Ich lasse mir sogar von ihnen ihre eigenen Lieder beibringen. Ich tausche sie ein gegen ein paar alte. Gegen Sachen, die kein anderer kennt. Sie bekommen alles Mögliche von mir, ein wenig Gospel, ein wenig Blues, patriotischen Singsang sogar. Ist das nun ihre Musik oder nicht? Woher soll ich das wissen? Liebe Güte, es ist doch nur Musik.«
Inzwischen standen wir vor meiner Tür. Mit einer Handbewegung fragte ich, ob er mit heraufkommen wolle, aber er schüttelte den Kopf. Er ließ den Blick noch einmal über mein Viertel schweifen. »Unglaublich, Joey. Du gibst dich als Schwarzer aus. Tust, als gehörtest du hier dazu. Weißt du noch, wie sie Jonah Strom immer den schwarzen Fischer-Dieskau genannt haben?«
»Kein Mensch hat dich so genannt, Jonah. Außer dir selbst.«
»Na, jedenfalls bist du jetzt der schwarze Joseph Strom.« Er klopfte mir auf die Schulter, drehte sich um und stieg wieder in seinen Leihwagen. Da hatten wir also Stolz und Neid. Doch noch nicht tot. Immerhin zwei von sieben. »Keine Sorge, Bruder. Ich verrate dich nicht.«
Zum Abschluss ihrer Tournee traten Voces Antiquae in New York auf, und ich konnte nicht anders, ich besorgte mir die Zeitungen. Es war ihre große Stunde im Rampenlicht, oder wenigstens ihre fünfzehn Minuten. Die New Yorker Kritiker überschlugen sich vor Begeisterung, jeder beeilte sich zu beteuern, wie lange er schon auf solch einen Klang ge-wartet habe. Jonah schickte mir den Ausschnitt aus der Times – »Ars antiqua ist wieder nova« –, wollte nicht riskieren, dass ich ihn verpasste. Die Besprechung pries ihn als vielleicht die klarste Männerstimme in der Alten Musik weltweit. An die Ecke dieser Lobeshymne hatte er seine Visitenkarte geheftet, und darauf stand: »Mit Grüßen vom besten schwarzen Konzertsänger«.
Damit war seine Rache vollendet, er war rehabilitiert. Die Musikwelt lag ihm zu Füßen, und er hatte einen Ton gefunden, der nicht mehr für etwas anderes stand, sondern nur noch für sich selbst. Aber er und ich wussten, dass das Strahlen dieser Nova von einem Stern stammte, der schon ausgebrannt war.
Eine weitere Überraschung hatte er noch für uns parat. Jetzt, wo er ganz für sich stand, gehörte er allen, nur nicht mehr sich selbst. Sein Triumph war in aller Munde, alle versuchten seinen Klang nachzuahmen. Ruhm ist das letzte Mittel, mit dem eine Kultur ihre Abtrünnigen unschädlich macht. Ein paar Monate nach der Nordamerikatournee wurde die Gesualdo-Aufnahme der Gruppe mit dem Grammy ausgezeichnet. Im Dezember 1990 verlieh man ihnen den paradoxen Titel des »Alte-Musik-Ensembles des Jahres«. Ich sah tatsächlich ein Poster von ihnen, wie ein Fahndungsfoto der Polizei, an der Wand eines Musikgeschäfts in Oakland, wo ich Schlegel für meine Schüler kaufte.
Der Clou kam ein halbes Jahr später, als man schon seit drei Monaten keinen Fernseher mehr einschalten konnte, ohne dass Rodney King zusammengeschlagen wurde. Eines Morgens erschien Ruth in meinem besenkammergroßen Büro in der Schule, in der Hand die neueste Nummer von Ebony. »Ich kann es nicht glauben. Ich begreife das nicht.« Sie warf mir die Zeitschrift auf den Tisch, vollkommen außer sich. Sie biss sich auf die Lippen, um die Tränen zu unterdrücken. Ich schlug die Titelgeschichte auf: »50 Vorbilder für das Amerika von morgen«. Ich blätterte die Liste durch, Wissenschaftler, Techniker,
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