Der Klang der Zeit
Gesicht unter Kontrolle zu bringen. »Wir haben schon schlimmer gewohnt«, erinnerte ich ihn.
»Sieht besser aus als meine eigene Bude. Die Wohnung in der Brand-straat hat Celeste behalten.« Er bestaunte all die amerikanischen Luxus-güter in meiner Küche – Erdnussbutter, Maiskolben, Cornflakes. »He, was ist denn das!« Er hielt eine Pappschachtel mit Haferflocken in die Höhe, von der ihn unter dem Aufdruck DOPPELPACK zwei kleine Mischlingskinder anstrahlten.
»Multikulti ist der letzte Schrei«, erklärte ich.
»Das war unser Problem, Muli, damals vor Jahrtausenden. Wir hatten nicht das richtige Marketing!«
Auch wenn ich noch so sehr meine Zweifel hegte, nahm ich ihn mit zu dem Laden, in dem ich immer frühstückte. Wir gingen zu Fuß. Jonah sah sich die Häuser an, von denen sich manche tapfer hielten, während andere längst aufgegeben hatten in einem Häuserkampf, dem er sein Leben lang aus dem Weg gegangen war. Er ging neben mir her, nickte. Ich erläuterte ihm, was er sah – wo es eine Zwangsräumung gegeben hatte, wo sie jemandem das Haus abgegaunert hatten, wo jemand ins Gefängnis gekommen war. Meine Nachbarn winkten oder riefen mir Sonntagsgrüße zu. Ich grüßte zurück, stellte aber niemanden vor.
»Erinnert mich an unser altes Viertel«, sagte Jonah.
»Welches alte Viertel?«
»Hamilton Heights. Unsere Kindheit.«
Ich blieb stehen, fassungslos. »Das hat kein bisschen Ähnlichkeit mit New York. Es könnte nicht weiter von unserer Kindheit weg sein, wenn du –«
»Das weiß ich, Joseph. Aber es kann mich doch trotzdem erinnern.«
Bei Milky's herrschte das übliche bunte Sonntagmorgentreiben. Eltern meiner Schüler, Kollegen, Nachbarn, Kellnerinnen, Stammgäste: Alle erkundigten sich nach Ruth und den Jungen, nach den neuesten Ausbauplänen für die Schule, alle wollten wissen, wen ich denn da mitgebracht hätte. Milky selbst begrüßte uns im leuchtend grünen chinesischen Seidenpyjama mit einer dunkelblauen Matrosenjacke darüber. »Dein Bruder, sagst du? Du willst mich wohl verscheißern, Joe Strom.«
Erst als wir einen Platz gefunden hatten, konnte ich wieder durchatmen. Jonah grinste mich von der anderen Seite des nackten Tisches an. »Du scheinheiliger Bastard. Du bist ja berühmter als ich.« Er bestand darauf, dass er von allem das Gleiche bekam wie ich. »Heute Abend sind wir in Denver. Die Alpen. Da kriege ich so oder so keine Luft.«
Während des ganzen Frühstücks ließ er sich von seinen Neffen erzählen. Ich nannte ihm die Fakten: Kwames aufsässiger, kämpferischer Rap. Der kleine Robert, die Lichtgeschwindigkeit, mit der er lesen, schreiben und vor allem rechnen lernte. Jonah nickte immer nur, wollte mehr wissen.
Als wir aufbrachen, folgte ein weiterer wohlwollender Spießrutenlauf. Mittlerweile war dieser abgedrehte Fremde mit dem makellosen T-Shirt und den Bügelfalten in seinen Khakis schon als Stammgast akzeptiert, und alle meine Freunde drängten ihn, am nächsten Sonntag wiederzu-kommen.
»Ich bin hier«, log Jonah. Schamlos. »Heizt schon mal die Pfanne an.« Milky und die anderen lachten, und ich war wütend auf meinen Bruder. Noch zwei Wochen, und auch er hätte dazugehört.
»Komm mit zu Ruth«, bat ich draußen vor dem Diner.
»Geht nicht. In fünfzig Minuten treffe ich mich mit den anderen am Flughafen.«
»Das schaffst du sowieso nicht.«
»Ich stelle meine Uhr zurück.« Wir machten uns wieder auf den Weg zu meiner Wohnung, Jonah gedankenverloren. »Und dir geht es also gut hier? Das ist das Leben, das du dir gewünscht hast?«
Ich nickte, bereit ihn zu belügen. Ruth, die Schule, meine Schüler: Sie waren wichtig. Aber, wenn ich ehrlich war, das Leben, das ich mir gewünscht hatte, waren sie nicht. Mir fehlte etwas, und ich hätte nicht einmal sagen können was. Es gab da noch etwas aus meiner Vergangenheit, das ich nicht an mich heranließ. Noch immer hatte ich das Stück aus meinem Inneren nicht festgehalten, das ich Wilson Hart versprochen hatte. Aber ich hörte nicht mehr, in welche Richtung meine Noten gingen. Die Chance sie aufzuschreiben hatte ich verpasst.
Wir waren wieder bei meinem Wohnblock angekommen. Ich betrachtete meinen Bruder, wie seine Kleider in der sanften Brise flatterten. Nein, gut ging es mir nicht. Nicht ganz. Nicht einmal annähernd, wenn ich ehrlich war. Ich arbeitete nach wie vor für jemand anderen, und wieder für einen Verwandten. Aber die Genugtuung, das zu hören, gönnte ich Jonah nicht. »Jawoll«, sagte ich.
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