Der Klang der Zeit
seine Erregung die arme Kimberly noch so sehr aus der Bahn wirft. Als seine Verzweiflung das Mädchen schließlich überwältigt und sie eine große Terz zu tief einsetzt, ist der schlaue Hans zur Stelle und summt sie zurück auf den rechten Weg.
Als all die verzauberten Lebkuchenkinder aus ihrem starren, ewig gleichen Albtraum erlöst sind, als die Hexe in ihrem eigenen Ofen schmort und die reumütige Familie sich einträchtig um ihre Asche versammelt, fällt der Fluch der Rolle von ihm ab. Zum ersten Mal verbeugt er sich ohne seine Mütze, zeigt aller Welt seine lockigen, dunkelroten Haare. Etwas verfinstert seine Miene, seine Augen. Aber er beugt sich der blonden Begeisterung und schultert die Bürde der liberal gesinnten Zuneigung.
Hinterher suche ich meinen Bruder. Er ist außer sich vor Entrüstung und stürmt durch die Garderobe. Er reißt sich los von den Bewunderern hinter der Bühne. Er wartet nicht auf mich. Mein Bruder Hänsel stürzt aus dem Foyer in die schützende Obhut unserer Eltern, seine Arme wedeln entschuldingend, er spricht von Verbesserungen, Erklärungen, Veränderungen, neuen Versuchen. Aber unsere Mutter beugt sich herunter und schließt uns beide in die Arme. »Oh, meine Jungs. Mein Jojo!« Das beschwichtigende Lächeln meines Vaters beruhigt die Vorübergehenden, kein Grund zur Besorgnis. »Ihr seid so begabt! Ich will, dass ihr auf meiner Hochzeit singt. Ihr müsst auf meiner Hochzeit singen.« Sie kann uns einfach nicht loslassen. Das ist ihr musikalischer Triumph, wenn auch nicht der, für den sie einst gearbeitet hat. »Oh meine Jungs, mein Jojo. Ihr wart so wunderschön!«
IN T RUTI NA
Als die nächsten Sommerferien bevorstanden, teilt Jonah unserem Vater mit, er müsse uns nicht abholen kommen. Wir könnten die Fahrt von Boston nach New York mit dem Zug machen. Wir seien alt genug, es sei einfacher und billiger. Gott weiß, wie diese Bitte auf unsere Eltern gewirkt haben mag oder was sie hineinlasen. Ich weiß nur noch, wie aufgeregt Mama war, als wir ausstiegen und auf dem Bahnsteig im Grand Central standen. Immer wieder packte sie mich im Wartesaal bei den Händen, drehte mich im Kreis und musterte mich, als sei ich anders geworden, eine Veränderung, die ich selbst nicht sah.
Ruthie wollte auf meine Schultern. Aber sie wuchs schneller als ich, und ich konnte sie höchstens noch ein paar Schritte weit schleppen. »Du wirst ja immer schwächer, Joey. Was hat die Welt mit dir angestellt?« Ich lachte, und sie wurde zornig. »Ehrlich! Das sagt Mama immer. Wer weiß, was die Welt alles mit euch anstellt.«
Ich blickte meine Eltern fragend an, aber die hatten nur Augen für Jonah, mussten ihn trösten, weil er sein Buch, die besten Opernplots aller Zeiten, im Zug liegen gelassen hatte.
»Du sollst mich nicht auslachen.« Ruthie schmollte. »Sonst wirst du als Bruder gefeuert.«
Den Sommer über sangen wir wieder zusammen, zum ersten Mal seit einem halben Jahr. Wir waren alle besser geworden, aber am dramatischsten war die Veränderung bei Ruth. Sie meisterte die kompliziertesten Melodien, folgte jeder Notenlinie, hatte schon nach ein paar kurzen Anläufen Rhythmus und Tonhöhe gefunden. In früherem Alter als beide Brüder hatte sie die musikalischen Hieroglyphen entschlüsselt. Sie schien anders geworden, verzaubert irgendwie. Sie wirbelte durch die Wohnung, lachte vor Glück, dass sie ihre Brüder wieder bei sich hatte. Aber sie brauchte uns nicht mehr, kam gar nicht mehr auf den Gedanken, mir von der Million Entdeckungen zu erzählen, die sie in meiner Abwesenheit gemacht hatte. Ich war befangen neben ihr. Ein Jahr Trennung, und wir hatten verlernt, wie man unter Geschwistern miteinander umging. Sie schauspielerte für mich, machte jeden nach, dessen Namen ich nannte, von Pas verrücktesten alten Kollegen bis hin zu ihrer geliebten Vee, unserer Vermieterin. Sie drehte sich um, verbarg das Gesicht in den Händen, und wenn sie uns dann wieder ansah, war sie um hundert Jahre gealtert. »Das sollst du nicht tun!« Mama erschauderte. »Das ist doch krank, so was!« Also tat Ruthie es erst recht. Ich lachte jedes Mal neu.
Das wieder vereinte Strom-Familienquintett grub seine alten Schätze aus, das fast schon vergessene Repertoire. Jetzt, da Ruth Vollmitglied war, konnten wir Byrds Messe für fünf Stimmen endlich singen, wie sie gedacht war, ließen die Vorhalttöne in dem zarten Agnus dei schweben, als wollten wir sie für alle Zeiten vor dem Verrat der Auflösung
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