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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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bewahren. Meine Familie wollte ja nicht mehr, als dass jeder seinen Teller aufs Stöckchen bekam und dass alle gleichzeitig in der Luft waren. Die Tempi gab jetzt Jonah vor. Er hatte immer ein Dutzend Erklärungen dafür, warum manches langsamer und manches schneller sein, wo eine Melodielinie an–, wo sie abschwellen sollte. Um die Tempoangaben der Komponisten kümmerte er sich nicht. »Wen interessiert das denn, was sich ein Blödmann vor Jahrhunderten dabei gedacht hat? Wieso sollen wir auf ihn hören, nur weil er das Ding geschrieben hat?« Pa war da ganz seiner Meinung. Die Noten hatten sich unseren Wünschen zu fügen und nicht umgekehrt. Auf Jonahs Anweisung machten wir Klagelieder zu Freudentänzen, Tänze zu Totenklagen, und die einzige Rechtferti-gung war der Puls seines eigenen inneren Ohrs.
    Er ließ uns etliche von Kimberlys Schätzen singen. Meine Eltern machten jeden Spaß mit, so abwegig er auch war – nur swingen musste es. Aber Jonah war nicht damit zufrieden, dass er einfach nur das abendliche Programm bestimmte. Er wollte Dirigent sein. Er tadelte Pas Technik, Korrekturen, die direkt aus János' Munde kamen. Pa lachte ihn nur aus und machte sich auch weiterhin sein Vergnügen, wie er es wollte.
    Eines Abends gegen Ende des Sommers, kurz bevor Jonah und ich nach Boylston zurückkehrten, unterbrach er Mama mitten in einer Phrase. »Du bekommst einen klareren Ton und musst dich nicht so mit dem passaggio mühen, wenn du den Kopf still hältst.«
    Mama legte ihr Notenblatt aufs Spinett und starrte ihn wortlos an. Wir hatten immer gesungen, weil es Bewegung war. Wer sang, der durfte tanzen. Wozu sollte es sonst gut sein? Meine Mutter sah meinen Bruder einfach nur an, und er hielt dem Blick mit Mühen stand. Die kleine Ruth stieß einen Klagelaut aus, ließ ihr Blatt flattern, wirbelte wie ein Derwisch, alles Versuche, die Anspannung zu vertreiben. Das Gesicht meines Vaters war bleich geworden, als habe sein Sohn ihm eine Belei-digung an den Kopf geworfen.
    Einen Moment lang spürte meine Mutter Einsamkeit. Ihr Schweigen hielt nicht einmal Jonah aus. Aber der Augenblick, in dem er es noch hätte zurücknehmen können, war vorbei. Unsere Mutter blickte ihm for-schend ins Gesicht, als frage sie sich, was sie da in die Welt gesetzt hatte. Schließlich lachte sie, aber die Lippen blieben hart. »Passaggio?. Was weißt du schon über passaggio? Ein Junge, der noch nicht mal im Stimm-bruch ist!«
    Er wusste nicht einmal, was das Wort bedeutete. Nur ein weiterer Fetzen Alchemie, den er bei dieser Monera aufgeschnappt hatte. Mama sah ihn an, über die Kluft, die er zwischen sie gebracht hatte, starrte das fremde Kind an, bis Jonah nachgab und den Blick senkte. Dann streckte sie den Arm aus und fuhr ihm durch das rotbraune Haar. Als sie wieder sprach, war die Stimme leise und brüchig. »Du singst dein Lied, Kind. Und ich singe meins.«
    Beim nächsten Madrigal waren sämtliche Köpfe in Bewegung, und Jonahs am allermeisten. Aber wir tanzten nie wieder mit derselben Selbstvergessenheit. Nie mehr ganz ohne Beklommenheit, jetzt wo wir wussten, wie unser Tanz in den Augen der Akademie aussah.
    Als wir im August nach Boylston zurückkehrten, hatte die Schulleitung uns zusammen in ein Zimmer gesteckt, ein Viererzimmer, das wir mit zwei älteren Jungs aus dem Mittelwesten teilten. In der Regel schliefen die jüngeren Schüler in großen Schlafsälen in der obersten Etage, und die kleineren Zimmer darunter waren den älteren Jahrgängen vorbehalten. Aber wir zwei hatten dies schöne musikalische Eden in Unordnung gebracht. Einen Jungen hatten die Eltern schon von der Schule genom-men, in zwei weiteren Fällen drohten sie damit, falls ihre Kinder weiter-hin mit uns in einem Raum schlafen müssten. Es war das Jahr des Falls Brown vs. Erziehungsbehörde von Topeka, das Jahr, in dem angeblich die Rassentrennung in den Schulen fiel. Aber an Sozialkundeunterricht be-kamen wir nicht viel mit.
    Was immer sie sich davon versprechen mochten, Boylston behielt uns. Vielleicht gab Jonahs Talent den Ausschlag. Vielleicht malten sie sich aus, wie es sich im Laufe der Jahre für sie auszahlen würde, wenn sie jetzt nicht nachgaben. Niemand sagte Jonah und mir je, wie groß die Zerreißprobe war, vor die wir die Schule stellten. Das war auch nicht nötig. Unser ganzes Leben verstieß ja gegen die Regeln. Vom ersten Tag an hatten wir ein Tabu gebrochen.
    Sie steckten uns in einen Verschlag mit Earl Huber und Thad West, zwei höheren

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