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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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Semestern, von denen jeder mehr Widerspruchsgeist hatte als wir beide zusammen. Keiner von beiden wäre je auf eine solche Schule gekommen, hätten nicht einflussreiche Eltern im Hintergrund die Fäden gezogen. Thads und Earls Familien hatten sich mit den Zimmergefährten ihrer Söhne einverstanden erklärt: Wir würden dafür sorgen, dass die beiden mit ins Rampenlicht kamen. Für Thad und Earl selbst waren die beiden Strom-Jungen prachtvolle Außenseiter, ein dunkler Fleck auf der weißen Weste des klein karierten Boylston, ihre Lizenz zur offenen Rebellion.
    Unser neues Zimmer war nicht mehr als eine Schuhschachtel, aber mir kam es vor wie ein Kontinent, der erforscht sein wollte. Die beiden zweistöckigen Betten ließen gerade noch Platz für zwei winzige Schreibtische und zwei Zedernholzschränke mit Schubladen. Als wir eintrafen, fanden wir Thad und Earl erwartungsvoll in ihren Kojen ausgestreckt, zwei kecke Gefangene, gespannt auf ihre schwarzen Zellengenossen. Aber schon mit den ersten Worten, die ich sprach, enttäuschte ich sie so sehr, dass ich die Scharte nie wieder ganz auswetzen konnte.
    Sie kamen beide aus einer Industriestadt in Ohio und waren mythische Gestalten für mich, wie Assyrer oder Samariter: Jungs wie aus Zeitungsreklamen oder Hörspielen im Radio, hellblond, adrett, unkompliziert, mit lauter Stimme so tief wie das Dröhnen eines Traktors auf endlosem Feld. Ihre Hälfte des Zimmers war voll gestopft mit Flugzeugmodellen, Bierdeckelsammlungen, Sportwimpeln und einem Var-gas-Pin up, das man in einer raschen Handbewegung zum Baseballer Bob Feller umdrehen konnte, wenn es an der Tür klopfte.
    In unserer Hälfte gab es nur ein Wandregal mit Taschenpartituren und einen vollständigen Satz des illustrierten Sammelwerks Große Kompo-nisten. »Das ist alles?«, fragte Earl. »Das nennt ihr zwei Inneneinrich-tung?« Verlegen hängten wir noch ein Foto auf, das Pa uns mitgegeben hatte, der Nordamerikanebel, eine verschwommene Schwarzweißauf-nahme aus dem Palomar-Observatorium. Als offizielles Begrüßungs-ständchen legte Thad das Finale von Beethovens Neunter auf, den Plattenspieler bis zum Anschlag aufgedreht. Sie waren ein schlechter Einfluss auf uns, in jeder Beziehung außer der einen, in der sie es gern gewesen wären. Jonah griff zu einem roten Kugelschreiber und kritzelte auf den Bildrand unter der Sternenwolke die Noten des gesamten Chorals. Wir sahen in der Partitur nach. Er hatte nur zwei unbedeutende Fehler gemacht.
    Earl und Thad träumten von einem Leben als Jazzmusiker, ebenso sehr getrieben von dem Wunsch, ihre Familie und die Welt der Weißen zu ärgern, wie von ihrer fingerschnippenden Liebe zum Rhythmus. Sie sahen sich als Agenten, weit hinter den feindlichen Linien der klassischen Musik. »Schwöre mir«, sagte Earl immer. »Wenn ich jemals etwas Französisches vor mich hinsumme, gib mir den Gnadenstoß.«
    Earl und Thad unterhielten sich in etwas, das sie für authentischen Greenwich-Village-Slang hielten, aber nach so vielen Stationen der stillen Post hörte es sich eher nach Greenhorn als nach Greenwich an. »Noch schnurrt das Kätzchen, Strom Eins, schnurrt wie ein Puma«, sagte Earl zu Jonah. »Guatemala-Banane, Handelsklasse A. Aber warte nur ab, schwarzer Freund. Bald geht's über den Jordan, kann jede Minute soweit sein. Dann hören wir dich krächzen.«
    »Wie ein Rabe«, gab Thad den Beat dazu.
    »Was meinst du, Strom Zwo?« Earl sah mich nie an, wenn er mit mir sprach. Ich brauchte den halben September, bis ich begriff, wer Strom Zwo war. Earl lag in seiner Koje, trommelte auf den Oberschenkeln wie auf einem Schlagzeug, schlug in die Luft nach dem imaginären Becken, ahmte, die Zunge an die Schneidezähne gedrückt, täuschend echt das Zischen der Jazzbesen nach. »Hm, Kleiner? Was meinst du, übersteht unser Mann den Sturz über die Niagarafälle?« Earl genoss seinen Status als tiefste Stimme der Schule – zwei volle Töne tiefer als alle anderen. »Seht euch doch mal um. Wie viel hoffnungsvolle Dreizehnjährige vom letzten Jahr sind denn noch da? Verdammt wenige, Freunde. Verdammt wenige.«
    »Da hat er Recht«, fügte Thad, der nie einen Einsatz verpasste, mit seiner nagelneuen Tenorstimme hinzu.
    Jonah schüttelte den Kopf. »Ihr zwei seid so voller heißer Luft, irgendwann fliegt ihr an eine Hochspannungsleitung und explodiert.«
    »Da hat er auch Recht«, bestätigte Thad.
    Jonah mochte seine Zimmergenossen – die schlichte jugendliche Freude daran, dass jemand

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