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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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seiner Chimera treu und über Nacht weise geworden, sagte nichts. Aber gerade Nichts war die beste Grundlage für wilde Spekulation.
    Das machte ihm Spaß, und sein viel sagendes Grinsen leuchtete noch im Dunkeln. »Was hast du denn wieder getrieben, Strom Eins?«
    »Gar nichts. Nur geübt.« Die Federn des Kanaris noch im Mundwinkel, auch wenn er sie rasch fortwischte.
    »So, so, Strom Eins. Geübt. Kann mir schon vorstellen, was.«        
    Jonah kicherte. »Singen, was sonst?«                                          
    »Hast du einen Treffer gelandet?« Earl erwachte aus seinem Koma. Zu dem Thema konnte er die ganze Nacht lang reden.
    »Gelandet?« Thad tat empört. »Huber, du Irrer. Ist das hier etwa ein Mann, der daneben wirft? Stürmt aus dem Mittelfeld vor, und der erste Wurf sitzt. Der zweite blind, und wieder ins Ziel. Nach einem Fehlwurf hält er die Flanke ...«
    »Ihr seid doch alle bescheuert.« Jonah sah mich an, eine Warnung, dass ich die Klappe halten solle. »Idioten, einer wie der andere.«
    »He, das ist cool«, findet Earl.
    An Halloween entwischte Jonah uns, war den ganzen Abend über verschwunden. Erst nach Mitternacht kam er zurück. Ich weiß nicht, wie er durch den abendlichen Appell gekommen war. Lange nach Schlafen-gehenszeit kratzte er an der Tür, und wir ließen ihn ein. Er war benom-men und sprach kaum ein Wort. »Mach ja dem Mädel keine Schande, Strom«, ermahnte Earl Huber ihn.
    Jonah hielt sein Starren aus. »Du hast doch überhaupt keine Ahnung, wovon du redest.«
    Thad schaltete sich ein. »Mann, Strom Eins, wir sind deine treuen Va-sallen, deine Schildknappen. Jedes Wort von dir ist uns Befehl. Ich flehe dich an. Wie ist es?«
    Mein Bruder zog sich die schwarzblaue Schulhose aus. »Wie ist was?«
    »Strom, Mann, tu uns das nicht an. Du bringst uns noch um.«
    »Es ist ... einfach unbeschreiblich.«
    Sie warfen sich in ihren Betten zurück, strampelten und johlten.
    Mein Bruder hob die Hand und gebot Schweigen. »Es ist vollkommener, ein ununterbrochener ... es ist wie Wagner.«
    Ein Name, den wir früher nicht in den Mund genommen hätten.
    »Na Gott sei Dank!«, rief Thad. »Dann verpasse ich ja nichts. Kann ich nicht ausstehen, das Gedudel.«
    »Es ist, als ob du beim Wichsen auf jemanden spritzt«, erklärte Earl, »und der spritzt auf dich.«
    Jonah schoss das Blut ins Gesicht, und jetzt war seine Farbe eindeutig genug. Wenn er ihr ein Leid antat, würde ich ihn umbringen. Würde meine Finger um seine Goldkehle legen und sie für immer zum Verstummen bringen.
    Keiner wusste, was sie in den wenigen Augenblicken, die sie für sich hatten, taten, aber was immer es war, Kimberly blühte auf davon. Selbst Thad West fiel ihre Wandlung auf. »Wird das so eine Art Operette, Strom Eins? Ich meine, was zum Teufel? Sieh sie dir an. So hat sie doch vor Halloween nicht ausgesehen.«
    Jonah ließ sich nicht ködern. Die Chimäre war jetzt kein Thema für unsere Sticheleien mehr. Er und seine Auserwählte machten sich unsichtbar, tauchten in einer verborgenen Nebenhandlung unter, wo sie die Modulation zu E-Dur erwarteten, das Sonnenlicht, das aus den Ausgestoßenen die neuen Herren machen würde.
    Dann erwischte ein Lehrer sie, im Rosengarten in den Fens. Sie saßen auf dem Rasen hinter den Spalieren, über eine Partitur gebeugt –Massenets Werther. Aber was genau sie im Augenblick der Entdeckung getan hatten, darüber wurde bald endlos spekuliert. Noch Tage später kamen Mitschüler und wollten, dass ich ihre abstrusen Wetten entschied.
    Nach dem Skandal verfiel Kimberly wieder in ihre übliche Lethargie, überzeugt davon, dass sie beide von der Schule geworfen würden. Aber auch der Lehrkörper konnte sich nicht vorstellen, dass die beiden den angeblichen Verstoß tatsächlich begangen hatten. Sie erhielten nicht einmal einen Tadel.
    Kimberly war so verschüchtert, dass sie ihrem Vater schon vorsorglich nach Salzburg geschrieben und den Vorfall aus ihrer Perspektive geschildert hatte. Der große Dirigent tat es mit einem Lachen ab. »Sem-pre libera«, antwortete er und kritzelte ein paar Noten der Arie auf improvisierte Notenlinien am Rand. »Wähle dir deine Gefährten klug und achte darauf, dass sie zu schätzen wissen, was du ihnen an kleinen Vergünstigungen gewährst. ›Di gioia in gioia, sempre lieta!‹« Sie zeigte Jonah den Brief und verpflichtete ihn feierlich zur Verschwiegenheit. Mir erzählte Jonah es trotzdem, ich

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