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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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hell, klar, traumhaft sicher und verloren. In anderthalb Minuten war alles vorbei.
    Was für Stimmen! Ihr zwei, ihr müsst auf meiner Hochzeit singen. Sie hat nie begriffen, wie sehr dieser Scherz mich erschreckte. Ich weiß, ich bin schon verheiratet. Kann ich mir nicht trotzdem wünschen, dass ihr auf meiner Hochzeit singt? Vielleicht würde sie sich das selbst im Tod noch wünschen. Vielleicht war dies die Hochzeit, an die sie gedacht hatte.
    Ihre schwarzbraunen Augen hätten uns gesund machen können, verständig. Hätten uns alle wieder lebendig machen können, wäre sie nicht als Erste zu den Toten gegangen. Wer kann schon sagen, weshalb sie dies hübsche kleine Lied so sehr mochte? Es gehörte ja nicht zu ihr. Es
    kam aus einer anderen Welt. Die Welt, in der sie leben musste, wollte nicht zulassen, dass sie es sang. Mamas drei Gänse – zwei graue und eine weiße – brachten das Lied übers Wasser zu ihr, an den Ort, wo sie nie daheim war.
    Noch ein zweites Mal trat ich als Begleiter auf, bei der letzten Gesangdarbietung, die den Gedenkgottesdienst abschloss. Während all der Reden und Lieder hatte Ruthie auf ihrem Stuhl neben Pa gesessen, an ihren Strümpfen gezupft, an ihren Schuhsohlen gezogen, als wolle sie ihre Mutter herausfordern, aus dem brennenden Haus zu kommen, ihr einen Klaps auf die unartigen Hände zu geben. Tagelang nach dem Feuer war Ruth weinend zu Bett gegangen und nachts schreiend aufgewacht. Sie verschluckte sich an ihrer Spucke, so heftig fragte sie, wo Mama sei. Erst als ich ihr sagte, das wüssten wir nicht, hörte sie auf zu weinen. Nach einer Woche hatte meine Schwester sich bereits abgekapselt, wälzte das Geheimnis in der Geborgenheit ihres Panzers immer und immer wieder um. Die Welt belog sie. Sie wusste nicht warum, aber keiner wollte ihr erzählen, was wirklich geschehen war. Es war eine Aufgabe, die die Erwachsenen ihr gegeben hatten, eine Prüfung, und sie war ganz auf sich gestellt.
    Schon bei dem Gedenkgottesdienst grübelte Ruth über dieses Geheimnis nach. Sie saß auf dem Stuhl, zupfte die Fäden aus dem Saum ihres Kleides, wälzte das Beweismaterial um. Zu Hause, am helllichten Tage, alle kamen davon, nur eine nicht. Ruth kannte Mama. So etwas wäre Mama nie passiert. Während des ganzen Gottesdienstes hielt Ruthie insgeheim Zwiesprache, beriet sich beim Nachmittagstee mit ihren in Rauch aufgegangenen Puppen. Von Zeit zu Zeit schrieb sie sich mit dem Zeigefinger etwas in die Handfläche, unauslöschliche Notizen an sich selbst auf dem vorbereiteten Pergament, all die Dinge, die sie niemals vergessen durfte. Ich beugte mich vor und wollte hören, was sie flüsterte. Immer wieder sagte sie mit kaum hörbarer Stimme: »Ich sorge dafür, dass sie dich finden.«
    So grausam es gewesen sein mag, hatten wir uns die Darbietung unserer Schwester für den Schluss aufgehoben. Ruth war das Beste, was wir an Erinnerung an Mama noch hatten, auf der ganzen Welt dasjenige, was ihr am ähnlichsten war. Schon mit zehn zeichnete sich ab, dass sie dieselbe Stimme bekommen würde. Ruth hatte alle Anlagen –eine Klarheit des Tons, die sich mit Jonahs messen konnte, Mamas Timbre, eine Phrasierung, die über alles hinausging, was ich zustande brachte. In einer anderen Welt hätte sie uns als Sängerin alle hinter sich gelassen.
    Sie sang das Lied, das jeder angehende Sänger lernt, von Bach und doch nicht von Bach, eine Melodie, wie man sie sich einfacher kaum vorstellen konnte, so einfach, dass selbst Bach sie nicht ohne Hilfe zustande gebracht hatte. Das Lied stand im Notenbüchlein seiner Frau, wo sie sich aufschrieb, was sie im Unterricht bei ihm gelernt hatte. Ruth hatte es von Mama gelernt, ganz ohne Unterricht.
     
    Bist du bei mir, geh ich mit Freuden
    Zum Sterben und zu meiner Ruh.
    Ach, wie vergnügt war so mein Ende,
    Es drückten deine lieben Hände
    Mir die getreuen Augen zu!
     
    Ruth sang, als seien wir zwei die beiden letzten Menschen auf der ganzen Welt. Ihr Ton war nicht laut, aber klar wie ein Glockenspiel. Ich ließ den Fuß vom Pedal und drückte die Tasten ganz behutsam, sodass der Ton nicht mit dem Druck meiner Finger, sondern beim Loslassen kam. Ihre lang gezogenen Noten schwebten über meinen Modulationen wie Mondlicht über einem führerlos treibenden Boot. Ich durfte nicht zuhören oder doch nur so viel, dass ich immer im Kegel ihres Lichtes blieb.
    Das einfachste Lied der Welt, so selbstverständlich und so geheimnisvoll wie das Atmen. Wer weiß, was die anderen

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