Der Klang der Zeit
hörten? Ich bin mir nicht einmal sicher, ob Ruthie die Worte verstand. Ursprünglich mochten sie an Gott gerichtet sein, aber Ruth schickte sie an eine andere Adresse.
Wir kehrten auf unsere Plätze zurück, und der ganze Saal schwieg. Nie wieder sang Ruth in der Sprache ihres Vaters, nie wieder sang sie die von ihrer Mutter so geliebten europäischen Lieder in der Öffentlichkeit. Bis sie schließlich nicht anders konnte.
Zum Abschluss sangen noch alle zusammen »On that Great Get-tin'-Up Morning«, »Wenn der Morgen der Auferstehung kommt«. Der Song stand nicht auf dem Programm, aber er fügte sich an, als gehöre er dazu. Die Freunde meiner Mutter sangen ihn in strahlendstem, hoffnungsvollstem Dur. Ein einziger Blickkontakt genügte, und das Tempo war gefunden. Stimme um Stimme kam hinzu, alle schmetterten, was das Zeug hielt, denn alle wussten, dass sie nur dies eine Mal zusammen sangen. Die Improvisationen wurden immer freier, und ich blickte hinüber, um zu sehen, was Jonah für ein Gesicht dazu machte. Die verquollenen Augen schienen zu sagen: »Wenn du willst, dann los.«
Anschließend gab es noch Sandwiches für alle, und unsere Gäste widmeten sich dem Essen mit einem Appetit, für den ich sie allesamt hasste. Die wenigen Kinder, die dabei waren, versammelten sich um Ruth, die hin- und hergerissen war zwischen Mitmachen und Verweigerung. Jonah und ich hielten die Stellung, sahen den Leuten zu, wie sie lächelten und sich an der Gesellschaft freuten. Wenn jemand kam und uns sein Beileid aussprach, dankte Jonah ihm mechanisch, und ich erwiderte den Leuten, dass sie doch nichts dazu könnten.
Ein Mann kam zu uns. Beim Gottesdienst hatte ich ihn nicht gesehen. Für uns war er nicht anders als die anderen Erwachsenen. Er war Anfang dreißig, zehn Jahre älter als gut für jeden war. Seine Hautfarbe schien mir perfekt, Gewürznelke mit einem Hauch Zimt. Er kam auf uns zu, zögernd, doch selbstbewusst und aufmerksam, mit rot verweinten Augen. »Ihr habt's drauf«, sagte er. Seine Stimme brach. »Ihr zwei, ihr habt Groove.«
Er versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. Ständig sah er sich im Raum um, fluchtbereit. Ich verstand nicht, warum jemand, den ich noch nie gesehen hatte, so erschüttert vom Tod meiner Mutter war.
»Ist das gut oder schlecht?«, fragte Jonah.
»Das ist großartig. Besser könnt ihr gar nicht sein. Merkt euch, dass ich es gesagt habe.« Er beugte sich herab, bis die rot geweinten Augen auf unsere Höhe kamen. Er sah uns versonnen an. »Du«, sagte er zu Jonah und zeigte anschuldigend mit dem Finger auf ihn. »Du klingst wie sie. Aber du.« In Zeitlupe machte er eine Vierteldrehung zu mir. »Du bist wie sie. Und ich meine nicht die Hautfarbe.«
Der Mann richtete sich wieder auf und blickte zu uns herab. Ich spürte Jonahs Wut, noch bevor ich sie hörte. »Woher wollen Sie das denn wissen? Kennen Sie uns überhaupt?«
Der Mann hob beschwichtigend die Handflächen. Sie sahen genau wie meine aus. Und sie hätten nicht anders ausgesehen, wäre er weiß gewesen.
»He, he, bleib cool, Mann.« Er klang, wie Thad und Earl liebend gern geklungen hätten. »Ich weiß es eben. Das ist alles.«
Auch Jonah hörte es. »Waren Sie ein Freund von ihr oder was?«
Zur Antwort sah der Mann uns nur an. Sein Kopf ging hin und her, ein langsames Kopfschütteln. Er staunte über uns, und ich wusste nicht warum. Er konnte nicht glauben, dass es etwas wie uns gab, aber er fand es wunderbar, komisch sogar. Er legte uns beiden die Hände auf den Kopf. Ich ließ ihn gewähren, Jonah schüttelte ihn ab.
Der Mann trat einen Schritt zurück, noch immer kopfschüttelnd, voll trauriger Verwunderung. »Ihr zwei, ihr swingt. Lasst euch von keinem was anderes erzählen.«
Wieder blickte er sich im Raum um, als fürchte er, dass jemand ihn fasste, oder vielleicht auch, als hoffe er darauf. »Grüßt euren Pa von mir. Von Michael, okay?« Dann kehrte er der Trauergesellschaft den Rücken und verschwand.
Wir fanden unseren Vater, wie er für zwei seiner Columbia-Kollegen Feynman-Diagramme auf Servietten zeichnete. Sie diskutierten über die Umkehrbarkeit der Zeit bei kollidierenden Elementarteilchen. Es schien obszön, dass sie über etwas anderes redeten als über Mamas Tod. Aber vielleicht hätte Pa, wenn wir ihn gefragt hätten, geantwortet, dass sie doch genau darüber redeten.
Jonah fiel ihnen ins Wort. »Pa, wer ist Michael?«
Unser Vater wandte sich von den Kollegen ab, sah uns mit leerem Ausdruck
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