Der Klang des Herzens
Das gefiel Kitty teilweise, weil es von außen ein bisschen wie in einem Lebkuchenhaus aussah oder wie in einem Haus aus einem Märchen, andererseits jedoch schämte sie sich. Wer musste schon sein Essen raushängen? Eine Zeit lang hatte sie gefürchtet, Anthony könnte in der Schule eine Bemerkung machen und alle würden sie auslachen, aber bis jetzt hatte er nichts gesagt.
Einmal, letzte Woche, als Matt herausfand, dass sie in dieselbe Schule gingen, hatte er gefragt: »Warum führst du Kitty nicht mal aus, Junge? Ihr könntet in die Stadt fahren, du könntest sie ein bisschen rumführen, ihr die Sehenswürdigkeiten zeigen.« Einfach so. Als ob es gar nichts wäre. Anthony hatte so komisch mit den Schultern gezuckt. Einerseits hatte es den Eindruck gemacht, als hätte er schon Lust dazu, aber sie war sich andererseits nicht sicher, ob er nicht vielleicht nur darauf eingegangen war, um seinen Vater nicht zu kränken. »Du findest es hier sicher langweilig, nach dem aufregenden Leben in der Großstadt«, hatte Matt gesagt, als sie ihnen einen Tee brachte – als ob sie in London andauernd durch die Diskos gezogen wäre oder so was. Sie war sich sicher, dass Anthony die Augenbrauen hochgezogen hatte, und da war sie gleich wieder rot geworden.
Byron, der nur in den ersten zwei Tagen gekommen war und dann wieder draußen zu tun hatte, redete kaum. Sie hatte den Eindruck, dass er sich in Häusern unwohl fühlte und sich lieber im Freien aufhielt. Er war größer als Matt und ziemlich attraktiv, aber er schaute nie jemandem in die Augen. »Byron ist unser großer Redner, nicht wahr, Kumpel?«, scherzte Matt gelegentlich, und Byron lächelte dann auf eine Weise, die deutlich machte, dass er das nicht witzig fand.
Mum war die meiste Zeit gestresst. Sie hasste es, dass die Männer andauernd ihr Radio laufen ließen. Sie mochte keine Popmusik, kapierte sie einfach nicht, und Dad hatte immer gesagt, Musik einfach so dudeln zu lassen sei akustische Umweltverschmutzung. Aber sie schien es nicht über sich zu bringen, die Männer zu bitten, das Radio abzuschalten. Sie hatte das große Schlafzimmer räumen müssen, da dort zu viel renoviert werden musste, und war in den Abstellraum gezogen. Zum Geigespielen ging sie jetzt immer rauf aufs Dach – der einzige Ort, wo sie genug Ruhe hatte, wie sie sagte. Wenn Kitty rausging und ihre Mutter oben auf dem Dach spielen
hörte und unten Matts Radio plärrte, dann kam ihr das fast vor wie ein Wettstreit.
Thierry schien überhaupt nichts mitzukriegen. Er verbrachte fast seine ganze freie Zeit draußen im Wald, und Mum sagte, man sollte ihn lassen. Kitty hatte ihn sich gegriffen und ihn gefragt, was er die ganze Zeit dort draußen trieb, aber er hatte bloß mit den Schultern gezuckt. Jetzt verstand sie zum ersten Mal, wieso Mum und Dad Schulterzucken irritierend fanden.
Ein Stockwerk über Kitty entrollte Matt McCarthy die Pläne, die der Architekt ihnen vor achtzehn Monaten erstellt hatte. Er hielt sie ans Treppenhausfenster und überlegte, welche der sorgfältig ausgetüftelten Umbaumaßnahmen sich am besten als Renovierungsarbeiten tarnen ließen. Einige, wie zum Beispiel der Anbau hinten, gingen natürlich nicht, aber andere, wie das Verlegen des Badezimmers, die Umgestaltung des Schlafzimmers und die neuen Fenster in den oberen Stockwerken, ließen sich Mrs Delancey ganz leicht als Renovierungsmaßnahmen verkaufen. In der Küche etwas anzufangen hatte dagegen wenig Sinn, bevor er nicht ihr Okay für den Anbau hatte. Aber es gab genug grundlegende Arbeiten, die man zuvor machen konnte. Tatsächlich, dachte Matt, lag er gar nicht so falsch, wenn er davon ausging, dass er Arbeit für mehrere Monate vor sich hatte. Die er der Hausherrin natürlich in Rechnung stellen würde.
Er atmete den vertrauten Geruch des alten Hauses ein. Jetzt war er froh über die Wendung der Dinge. Es war schön, hier zu arbeiten. Innerhalb dieser alten Wände hatte er das Gefühl, sein Leben wieder im Griff zu haben, etwas zurückbekommen zu haben, was ihm weggenommen worden war.
Er rollte die Pläne zusammen und schob sie sorgfältig zurück in den Pappzylinder, drückte die Kappe drauf und legte ihn in seine große Tasche. In diesem Moment tauchte Byron
im ersten Stock auf. Für einen Mann seiner Größe war er erstaunlich leise. Zu leise, für Matts Geschmack.
»Okay«, sagte Byron, »was machen wir heute?«
»Gute Frage. Und eine Million möglicher Antworten.«
»Wie läuft die Arbeit am
Weitere Kostenlose Bücher