Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Klang des Herzens

Titel: Der Klang des Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
Vom Netzwerk:
ersten Takte von Carmen von Bizet. O nein, dachte sie, das kann sie doch nicht bringen. Aber Isabel war neben Thierry in die Hocke gegangen und hatte sich einen Vorhang geschnappt. Den wickelte sie sich nun um die Hüften.
    »Mum, bitte…«, flehte Kitty. Aber ihre Mutter begann sich bereits in der rhythmischen Musik zu verlieren, tänzelte durch den Raum, wirbelte den Vorhang herum, schlang ihn sich um die Schultern. Thierry nahm sich den anderen und tat es ihr nach. Sein Mund formte dabei Worte, die er nicht länger laut aussprechen wollte. Gereizt stakste Kitty zur Anlage, um die Musik abzuschalten, doch dann sah sie, wie sehr ihre Mutter sich darüber freute, dass Thierry tanzte, und da wusste sie, dass sie ausmanövriert war. Mit verschränkten Armen stand sie da und schaute zu, wie die beiden umeinander herumtanzten, wie sie Oper spielten, und betete, dass es bald vorbei sein und, vor allem, dass die da oben nichts davon mitbekommen würden.
    Natürlich musste Anthony genau in diesem Moment runterkommen. Byron kam als Erster, mit einem Arm voll Holz, das sie rausgerissen hatten. Er ging vorbei. Aber Anthony blieb stehen, die Wollmütze tief in die Stirn gezogen, und spähte, einen Hammer in der Hand, ins Zimmer. Kitty fing seinen Blick auf und hätte im Boden versinken können. So sehr hatte sie
sich noch nie im Leben geschämt. Dachte sie jedenfalls. Doch dann erblickte ihre Mutter Anthony, schrie: »He, Anthony, Stierkampf!«, und warf ihm ihren Vorhang zu. Thierry legte die Zeigefinger an die Stirn und ging in Angriffsstellung.
    Kitty wäre am liebsten gestorben. Stierkampf war ein Spiel, das sie immer mit ihrem Vater gespielt hatten. Er hatte mit einem Handtuch gewedelt, und sie und Thierry hatten ihn attackiert, wobei er leichtfüßig aus dem Weg gesprungen war. Ihre Mutter konnte doch nicht wirklich Stierkampf spielen! Das war einfach nicht richtig. Und jetzt würde Anthony allen in der Schule erzählen, dass sie verrückt waren.
    Aber er fing den Vorhang auf, warf seinen Hammer beiseite und stellte sich in Positur. Thierry rannte mit gesenktem Kopf auf ihn zu, und Anthony wich geschickt aus. Die Anwesenheit eines anderen Jungen schien ihn förmlich zu elektrisieren; seine Angriffe wurden immer temperamentvoller, immer ungehemmter. Die Musik nahm an Tempo zu, und Thierry stürmte durchs Zimmer wie der sprichwörtliche Bulle, rannte Tischchen um, ließ Teppiche fliegen, zwang Anthony mehrmals, beherzt aufs Sofa zu springen. Ihre Mutter stand in der Ecke bei der Stereoanlage und lachte sich kaputt. Thierry brüllte und scharrte mit einem »Huf«. Anthony wedelte mit dem Vorhang und schrie Olé !
    Und auf einmal schrie auch Kitty. Und zum ersten Mal seit wer weiß wie lange war sie glücklich. Sie lachte, alle lachten, die Musik, der Lärm – ja, sie war glücklich, richtig glücklich. Ihre Mutter schnappte sich Thierrys liegen gebliebenen Vorhang und begann wieder zu tanzen. Kitty lief zu ihr und versuchte, ihr den mottenzerfressenen Stoff zu entreißen. Es war wundervoll, sich um den Vorhang zu balgen. Doch dann ertönte oben ein fürchterliches Krachen, dass das ganze Haus erzitterte. Die CD blieb hängen, und alle standen einen Moment lang stocksteif vor Schreck da. Dann lief Isabel zur Stereoanlage und schaltete die Musik ab.

    »Verdammt, was war das?«, fragte sie, und da ertönte ein weiteres, nicht ganz so lautes Krachen, gefolgt von einem gedämpften Ausruf.
    Kitty warf den Vorhang beiseite und rannte zusammen mit den anderen nach oben. Dicke Staubwolken quollen aus dem großen Schlafzimmer. Matt kam hustend herausgestolpert und rieb sich die Augen. »Mannomann, das war knapp«, keuchte er. »Ein paar Minuten eher, und es hätte Anthony erwischt.«
    Anthony starrte erschrocken ins Zimmer. Auch er war grau vor Entsetzen – aber vielleicht lag’s auch am Gipsstaub. Die Hände über Mund und Nase gelegt, folgte ihm Isabel, trotz Matts Warnungen. Auch Kitty betrat vorsichtig das Schlafzimmer.
    Die Zimmerdecke war verschwunden. Wo einst eine glatte, weiße Fläche gewesen war, gähnten nun nackte Balken, und man konnte den Speicherboden erkennen. In der Mitte des Zimmers türmte sich ein großer Haufen Putz und Balken, deren Enden spitz hervorragten. Da steht Mums Bett, dachte Kitty. Das alles hätte auf ihr landen können.
    »Ich hatte mir den Stromanschluss an der Decke angeschaut, um zu sehen, in welchem Zustand er ist«, erklärte Matt, »und auf einmal ist die ganze Unterdecke runtergekommen,

Weitere Kostenlose Bücher