Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
sitzenden Hüten verbargen. Sie alle zog es zu den Prostituierten. Doch diese eine Person folgte ihnen, bewegte sich dicht an Hausw änden entlang, verschwand in winzigen Vorgärten oder drückte sich in die Geschäftseingänge des Tabakladens, des Wein- und Spirituosenhändlers oder des Tee- und Zuckerhändlers.
„Siehst du den?“, raunte Chloe schließlich Norah zu.
„Ja. Wahrscheinlich ist das einer von den Polizisten.“ Norahs Stimme klang erschreckend unsicher.
„Hoffen wir es“, murmelte Chloe und warf wieder einen Blick zurück. Täuschte sie sich, oder waren es jetzt drei Personen, die ihnen folgten? Ein eisiger Schauer schüttelte sie, und sie griff nach Norahs Hand.
„Ich habe auch Angst, Chloe. Aber ich möchte das für Katie und Ella tun.“
„Ich weiß, Sternchen.“
Für Chloe vollkommen überraschend blieb Norah plötzlich vor dem Laden eines Kunsthändlers stehen und drehte sich nach ihren Verfolgern um. Die Männer waren ihnen bereits dicht auf den Fersen. Sie brauchten nur wenige Schritte, bis sie die beiden Frauen erreicht hatten und brutal gegen die raue Hauswand drückten.
Chloe wehrte sich verzweifelt, doch der größte der Männer presste sie unter Einsatz seines gesamten Körpergewichts gegen die Wand. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie ein anderer Mann Norah an den Haaren packte und ihren Kopf unsanft nach hinten riss, damit das Licht aus dem Fenster des Hauses ihr Gesicht beschien.
„Das ist nicht Norah!“, fauchte er ungehalten und ließ ihre Freundin los, die gegen den dritten Mann taumelte. Der auffällig gut gekleidete Herr trat aus dem Lichtschein zurück in die Dunkelheit, wohl in der Hoffnung, die beiden Frauen hätten sein Gesicht noch nicht gesehen.
Chloe, die am ganzen Körper vor Furcht zitterte, aber nicht gewillt war, einfach aufzugeben, versuchte ein weiteres Mal, sich aus dem unnachgiebigen Griff des Hünen zu winden, doch der legte seine rechte Hand um ihren Hals und drückte zu.
Erschrocken schnappte sie nach Luft. Wenn sie sich weiter gegen ihn zur Wehr setzte, würde er sie am Ende noch erwürgen. Was wollten diese Männer von ihr und Norah? Wer hatte sie geschickt? Ryan? Mit der kalten, rauen Wand im Rücken verharrte sie reglos und spürte, dass eine zunehmende Panik sie umfing wie der immer dichter werdende Nebel.
In diesem Moment ging in dem Haus, gegen dessen Mauer sie gedrückt wurde, das Licht aus.
Kapitel 34
Nach der Morgenandacht der zweiten Klasse, die der Chef-Zahlmeister Hugh Walter McElroy, der ein abgeschlossenes Theologiestudium aufweisen konnte, gehalten hatte 12 , hatte Richard noch lange in dem Aufenthaltsraum gesessen und sich angeregt mit August Meyer, einem deutschen Bäcker, und dem Priester Joseph Peruschitz aus Bayern unterhalten.
Später waren Jonathan, James, Niklas und Paul aufgetaucht. Das Quartett ließ sich durch etwaige Sprachbarrieren nicht beirren und bestritt ein Brettspiel nach dem anderen, in die sie im Laufe des Tages auch Richard und Ruth mit einbezogen.
Am Spätnachmittag betraten Benjamin Hart und seine siebenjährige Tochter Eva den Raum. Vermutlich hatte Mrs Hart sich wieder zurückgezogen. Die Frau beharrte auf der Vorahnung, sie alle würden auf diesem Schiff ein Unglück erleben. Aus diesem Grund schlief sie tagsüber und hielt nachts Wache.
Nach der reichhaltigen, mehrere Gänge umfassenden Abendmahlzeit nahm Richard an dem von Reverend Carter, einem Geistlichen der Kirche von England, initiierten Liederabend teil. Ein schottischer Ingenieur, Douglas Norman, etwa im gleichen Alter wie Richard, der unterwegs zu seinem Bruder nach Kanada war, begleitete die Kirchenlieder am Klavier. Mehrere Hundert Personen nahmen teil und wünschten sich, wohl angeregt durch die Seereise, in der Hauptsache Lieder, deren Inhalt sich mit möglichen Gefahren auf See beschäftigte. Richard kannte die englischen Texte nicht, wenngleich er einige Melodien mitsummen konnte. In der Hauptsache jedoch interessierten ihn die Erzählungen von Mr Carter. Er gab zu jedem Lied eine Geschichte zum Besten, sei es über dessen Entstehung oder über den Dichter und Komponisten. So wurde es sehr schnell nach 22:00 Uhr, und der diensthabende Steward, der noch Gebäck und Kaffee servieren wollte, wartete bereits an der Tür. Er würde erst anschließend seinen wohlverdienten Feierabend haben.
Richard verzichtete auf den Kaffee und trat durch die Außentür auf das Promenadendeck. Trotz des zum Schutz vor dem kühlen Fahrtwind angebrachten
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