Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
geblieben. Er war hier drin! Bei ihr!
Seine schweren Schritte näherten sich ihr. Sie schob sich mit vor Angst schrecklich schwachen Beinen bis in die hinterste Ecke des Raumes und drückte sich dort zitternd unter die Dachschräge. Verzweifelt hielt sie die Luft an. Ihr Herz raste und im gleichen Rhythmus jagte ihr ein Gedanke durch den Kopf: Hilf mir, Herr. Bitte hilf mir!
Das Pfeifen in ihrem Kopf verstummte allmählich. Zitternd lag Chloe auf dem eiskalten Boden und wagte nicht, sich zu rühren. Die harten Steine des Pflasters drückten ihr schmerzlich in die Wange. Um sie herum war es sehr still, fast friedlich. Hieß das, der Mann mit der Waffe war fort? Hatte er sie verschont? Sie hörte die Schritte zweier Personen auf der anderen Straßenseite vorübergehen. Vermutlich sahen sie sie aufgrund des Nebels und der Dunkelheit nicht. Endlich wagte sie es, zumindest die Augen zu öffnen.
Der eine Mann lehnte noch immer in derselben zusammengesunkenen Haltung an der Hauswand. Er war mit Sicherheit tot. Chloe sah sich suchend um, bis sie den Haarschopf eines Mannes neben sich entdeckte. In seinen Haaren klebte eine dunkle Flüssigkeit. Als in dem Haus, vor dem sie lag, wieder eine Lampe entzündet wurde und deren Schein auf die Straße fiel, schimmerte die Flüssigkeit rot auf.
Chloe rieselte ein heißer Schauer durch den Körper. Durfte sie es wagen aufzustehen? Sie blieb noch einige Zeit liegen, völlig unsicher, was sie jetzt tun sollte, und lauschte den Geräuschen der Stadt: das Klappern von Pferdehufen und ein schrilles Lachen aus einem der umliegenden Häuser. Schließlich, als sie sich ganz sicher war, dass sie allein war, arbeitete sie sich langsam und mühsam auf die Knie. Der Mann neben ihr lag inzwischen in einer Blutlache, deren Farbe wie ein Rubin leuchtete. Aber auch Chloes Mantel und ihre Hand trugen rote Spuren.
„Was um alles in der Welt …?!“ Der laute, erschrockene Ausruf einer Männerstimme ließ sie zusammenzucken.
Hastig richtete Chloe sich auf. Als sie einen Schritt vor der sich ihr nähernden Gestalt zurückwich, trat sie gegen einen Gegenstand. Eine Pistole mit langem Lauf rutschte, begleitet von einem schleifenden Geräusch, über das Pflaster.
„Was haben Sie getan?“, rief die Stimme, nun schon viel näher.
Chloe sah dem Herrn in seinem gepflegten Anzug und dem offenen, wehenden Mantel sprachlos entgegen. Wie sollte sie erklären, was hier geschehen war? Sie konnte es nicht, denn sie hatte das Gesicht des Wortführers und Schützen nicht gesehen und würde auch schwerlich den Hintergrund der Tat erklären können, zumal sich ihr dieser selbst nicht vollständig erschloss.
Chloe sah nur eine Möglichkeit, um der unübersichtlichen Situation zu entkommen: So schnell sie konnte, warf sie sich herum und rannte in die dunkle Gasse hinein, wobei ihre Schritte laut von den Hauswänden widerhallten. Der weiße Nebel umgab sie ebenso wie die schreckliche Gewissheit, dass sie soeben Zeugin eines Doppelmordes geworden war und für die Täterin gehalten wurde.
Noch immer hing der Nebel dicht über dem Kopfsteinpflaster und hüllte die Häuser ein wie eine Decke. Manchmal, wenn der leichte Wind eine Nebelbank ein Stück weit aufriss, konnte Chloe die Sterne vom Himmel blinken sehen, ehe sie wieder von dem schmutzigen Grauweiß verdeckt wurden. Nass und frierend drückte sie sich gegen einen Lattenzaun und wartete. Über zwei Stunden lang hatte sie sich immer weiter durch die Gassen bewegt, um mögliche Verfolger zu verwirren. Jetzt stand sie gegenüber von Ellas Haus und traute sich nicht hinein. Um sie herum herrschte Stille. Wohltuende Stille. Das Einzige, was sie vernahm, war ihr schneller Herzschlag, der laut in ihren Ohren hämmerte. Chloe fühlte sich elend, sie fror und hatte schreckliche Angst. Vielleicht war ihre unüberlegte Flucht ein Fehler gewesen. Aber sie hatte keine andere Möglichkeit gesehen. Sie war eine Frau aus dem Hafenviertel und die Situation musste eindeutig ausgesehen haben. Wer hätte ihr geglaubt, dass sie nicht die Täterin, sondern ebenfalls ein Opfer war?
Weitere Minuten verrannen, in denen sie einfach nur unschlüssig in der nebelverhangenen Gasse stand. War ihr wirklich niemand gefolgt? Würde jemand sie sehen, wenn sie Ellas Haus betrat? Sie wollte ihre Freundin nicht auch noch in die Gefahr bringen, für die Komplizin einer Mörderin gehalten zu werden.
Schließlich raffte sie sich auf. Sie schlang den feuchten Mantel fest um ihren Körper und
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