Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
versteckte ihr Gesicht in dem aufgestellten Kragen. Auf diese Weise verhüllt schob sie sich, aufgrund ihrer Körperfülle ein wenig schwerfällig, zwischen den Zaunbrettern und der Wand hindurch und eilte über die Gasse. Ihre Schritte hallten durch die Nacht und der Nebel schien mit langen, klammen Fingern nach ihr zu greifen.
Ohne anzuklopfen drückte sie gegen die Tür, und diese schwang tatsächlich auf.
Im flackernden Licht einer Kerze sah sie als Erstes die betend vor ihrem Bett kniende Ella. Sie drehte sich nach ihr um und schrie erschrocken auf.
Mit hastigen Schritten flog sie förmlich auf Chloe zu und zerrte mit beiden Händen an ihrem Mantel. „Ist das Norahs Blut?“ Obwohl Ella flüsterte, war die Panik deutlich zu hören, die sie beim Anblick der Blutflecken empfand.
Erschrocken über ihre eigene Gedankenlosigkeit streifte Chloe den Mantel ab und warf ihn achtlos beiseite, während sie stumm den Kopf schüttelte. Die Frage, ob Norah schon hier gewesen war, erübrigte sich durch den entsetzten Ausruf von Ella. Erneut breitete sich Angst um Norah in Chloes Herzen aus.
Zwei magere Ärmchen legten sich um ihre Hüfte und sie senkte den Kopf. Sean stand im Nachthemd neben ihr und seiner Mutter. Der Junge trat auf der Stelle, wohl weil der Boden unter seinen nackten Füßen so eisig kalt war.
„Wo ist Katie? Und Norah?“, wollte er wissen, und in seinem Blick lag eine unendliche Traurigkeit, als wappne er sich innerlich für schlechte Nachrichten.
Chloe ließ Ella los, ging auf die Knie und nahm den schmächtigen Jungen in ihre Arme. Das Kind kuschelte sich an sie, und sie überlegte fieberhaft, was sie ihm sagen könnte, um ihn zu beruhigen. Wie ein Wink vom Himmel fiel ihr plötzlich etwas ein.
„Katie kann noch gar nicht hier sein, Sean. Der Weg von dem Haus, wo sie festgehalten wurde, bis hierher ist weit“, erklärte sie leise.
„Und Norah?“ Der Junge drückte sich noch fester an sie.
„Ich weiß nicht, was Norah aufhält, Sean. Eigentlich hatte ich gehofft, ihr hättet längst etwas von ihr gehört.“
„Sie hätte da nicht hingehen sollen.“
„Sie tat es, weil sie darin die Möglichkeit sah, Katie zurückzubringen. Sie liebt dich, deine Mama, Evan und Katie sehr.“
„Was ist, wenn die ihr was tun?“
Chloe atmete tief ein und aus. „Wir beten, dass das nicht passiert und dass sowohl Katie als auch Norah gesund zu uns zurückkommen, Sean.“
„Und wenn nicht?“
Chloe setzte sich auf den feuchtkalten Boden, lehnte sich mit dem Rücken gegen die raue Wand und zog Sean neben sich.
„Dann wird es für uns alle sehr schwer werden, Junge. Und das nicht nur, weil wir um die Menschen trauern, die uns sehr viel bedeuten, und sie ganz schrecklich vermissen werden, sondern auch, weil wir damit klarkommen müssen, dass Gott mit ihnen andere Pläne hatte, als wir uns das gewünscht hatten.“
Sean flüsterte ihr leise zu: „Ich weiß nicht, ob Mama das aushalten kann! Papa, Norah, Katie …“
„Sie wird es sehr schwer haben, Sean. Aber sie wird darüber hinwegkommen und weiterleben, denn sie weiß, dass sie selbst und auch dein Papa, Norah und Katie in Gottes Händen sind. Er wird ihr die nötige Kraft schenken. Sie wird für dich und Evan da sein und irgendwann wieder all das Schöne um sie herum wahrnehmen. Und eines Tages werden wir alle wieder zusammen sein, wenn wir bei Gott in seinem herrlichen Himmel sind!“
Sean schwieg und Chloe warf Ella einen hilflosen Blick zu. Wie sollte der Achtjährige etwas verstehen, was selbst viele Erwachsene für zu groß und unfassbar hielten? Die junge Mutter beachtete sie nicht, sondern hatte sich auf ihr Bett gesetzt und betrachtete mit schmerzlichem Gesichtsausdruck den schlafenden Evan.
In diesem Moment klopfte es laut und fordernd an der Tür. Chloe schrak zusammen und betrachtete die inzwischen auf ihrer Hand angetrockneten schwarzen Blutspuren. Kam Norah endlich oder war ihr selbst doch jemand gefolgt?
Die Tür wurde mit einem langgezogenen Knarren geöffnet. Chloe hielt den Atem an.
Kapitel 36
Richard schrak hoch, als jemand kräftig an seiner Kabinentür klopfte. Noch ehe er richtig wach war, steckte ein Steward seinen Kopf herein. „Bitte stehen Sie auf. Nehmen Sie Ihre Rettungsweste und gehen Sie aufs Bootsdeck.“ Damit verschwand der Steward und ließ Richard allein und verwirrt zurück.
Er schloss seine müden Augen wieder, riss sie Sekunden später jedoch weit auf: Die Titanic stand still. Er warf einen Blick auf
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