Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
veranlasste den Jungen, sich ihr erschrocken zuzuwenden. „Das Schiff war doch nur zur Hälfte gebucht“, erklärte sie und ließ ihn dann stehen.
Chloe ergriff ihre Hand und zwang sie dadurch, ihr Tempo zu mäßigen, da Eve und Catherine nicht gleich nachkamen. „Ruhig, Norah.“
„Ich bin ganz ruhig!“
„Das bist du nie, Sternchen. Die Chancen, dass Rick überlebt hat, stehen gut. Er war doch ein Passagier.“
Norah drückte Chloes Hand. „Es ist lieb von dir, dass du versuchst, mich aufzumuntern, Chloe. Aber diese Spekulationen helfen nichts.“
„Du hast recht. Letztendlich müssen wir abwarten.“
„Abwarten und beten, Chloe.“
Die Schritte der Frauen mischten sich mit dem Lärm der Automobile und Pferdegespanne, während über den Häusern das Kreischen der Möwen zu hören war. An diesem Montag waren ungewöhnlich viele Menschen auf den Straßen. Oft standen sie in kleinen Gruppen beieinander und diskutierten gestenreich.
Als die vier Frauen in die Gassen oberhalb der Werften einbogen, begegneten ihnen viele wie ziellos umherlaufende Frauen und Männer, und aus dem offen stehenden Fenster eines Hauses drang lautes Weinen.
Norah wurde langsamer und hielt schließlich an. Mit nachdenklichem Blick sah sie zu dem Fenster hinauf. Chloe, die ebenfalls stehen geblieben war, fragte mitleidig: „Kennst du die Familie, Norah?“
„Ja. Ich könnte …“
„Das könntest du heute in tausend Familien Irlands und Englands, Sternchen.“
Norah stürmte in den winzigen Flur. Die Tür zum Wohnraum war nur angelehnt und so hörte sie das heftige Weinen ihrer Mutter ebenso wie die schweren Schritte ihres ruhelos im Raum auf und ab gehenden Vaters schon von draußen. Schwungvoll stieß sie die Tür auf und eilte zu ihren Eltern.
Ihr Vater sah sie und verharrte mit offenem Mund, während ihre Mutter noch immer vor einem Stuhl kniete und zu beten schien. Als sie die Bewegung hinter sich hörte, drehte sie sich langsam um. Auch an ihren Gesichtszügen konnte Norah eine Mischung aus Erschrecken und Unglauben ablesen, jedoch reagierte sie schneller als ihr Mann. Mit einem einzigen Satz war sie auf den Füßen, schob ihren Mann beiseite und riss Norah in ihre Arme.
„Oh Gott, ich danke dir!“, flüsterte sie.
Norah legte ihre Arme um die heftig zitternde, weinende und zugleich lachende Frau. „Ich bin hier, Mama. Mir ist nichts passiert“, flüsterte sie in ihr Haar und schloss dann gequält die Augen. Von Adam, Dylan und Richard konnte sie das nicht sagen. Noch nicht …?
„Norah?“ Ihr Vater strich ihr mit der Hand über den Rücken. Sie war sich sicher, noch niemals eine zärtlichere, weichere Geste von seinen großen, starken Händen gespürt zu haben. Schluchzend wandte sie sich um und ließ sich von ihm lange und fest umarmen.
„Wie kommt es, dass du nicht auf der Titanic warst?“, wollte er schließlich wissen.
Norah hob den Kopf. Ihre Mutter saß inzwischen auf dem Stuhl, vor dem sie zuvor gekniet hatte. Sie lächelte, während ihr noch immer die Tränen über das Gesicht liefen. „Chloe hat mich in Queenstown von Bord geholt. Jemand hatte Katie entführt.“
„Die kleine Katie MacConmara? Entführt?“
„Ja, Ellas Katie. Aber sie ist wieder zurück bei ihrer Familie. Ich erzähle euch später davon. Es gibt da einen Reporter, der gerade versucht, Genaueres über die Titanic herauszufinden. Ich will jetzt gleich zu Chloes Haus gehen, denn dort treffen wir uns.“
„Was wohl mit Adam ist?“, überlegte Ellen, und der Schmerz in ihrer Stimme tat auch Norah weh.
„Adam wird die Aufgabe gehabt haben, die Rettungsboote klarzumachen und den Passagieren beim Einsteigen zu helfen, Mama.“
„Und dann?“
„Jedes Rettungsboot braucht Seeleute, die es führen.“
„Vielleicht …“
„Ja, Mama … vielleicht.“ Norah zuckte bekümmert mit den Schultern und lächelte ihre Mutter freudlos an.
Ellen beugte sich vor und ergriff sie am Arm. „Und Dylan? Was ist mit Dylan?“, fragte sie ängstlich, und es war ihr deutlich abzuspüren, wie sehr sie Adams lustigen Freund ins Herz geschlossen hatte.
„Mama, ich weiß es nicht. Er ist Heizer. Du kennst ihre Stellung.“
„Er ist ein Kleiderschrank von einem Mann. Vielleicht …“
„Ja, vielleicht.“ Norah kniete sich vor den Stuhl und legte ihre Arme um die bebenden Schultern ihrer Mutter.
„Mama, da ist noch etwas …“, begann Norah, und in ihrem Inneren breitete sich ein heißer Schmerz aus.
„Wer?“
Ihre Frage zeigte
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