Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
Gefühlen geprägte Trubel auf dem Pier und seiner Umgebung legte sich nur allmählich. Schließlich standen nur noch ein paar vereinzelte Menschen da und verharrten schweigend in der Dunkelheit: Eine gut gekleidete Frau mit einem kleinen Kind an der Hand. Eine einzelne ältere Dame. Ein Mann in ärmlicher Kleidung. Eine kleine Familie, eng aneinandergedrückt. Doch nachdem die letzten Dritte-Klasse-Passagiere die Carpathia verlassen hatten, kam niemand mehr. Sie würden von nun an für immer allein bleiben.
Im Schiff begannen die Reinigungs- und Aufräumarbeiten. Nach und nach drehten die Menschen sich um und schlurften davon, mit gesenkten Köpfen, hängenden Schultern und ohne sich noch einmal umzusehen.
Adam erfuhr inzwischen, dass die Offiziere, einige Mitglieder der Besatzung und auch Passagiere sehr zügig vor einem Untersuchungsausschuss in den Vereinigten Staaten aussagen mussten. Diese Anhörung war für den nächsten Morgen im Ballsaal des Waldorf Astoria anberaumt worden. Vermutlich würde es auch in Großbritannien eine Untersuchung der Katastrophe geben. Adam gehörte jedoch nicht zu denjenigen, die vor den Ausschuss zitiert wurden, und so machte er sich erleichtert auf die Suche nach dem Schiff, das ihn und die anderen Überlebenden, die zurück in ihre europäische Heimat wollten, wieder über den Atlantik bringen würde. Er würde nach Hause fahren, zurück zu seinen Eltern, zu Norah, Eve und all den anderen. Doch die Nachrichten, die er ihnen zu überbringen hatte, waren keine guten.
Der große Mann trottete, die Hände tief in den Hosentaschen, mit hängenden Schultern davon. Die Jungfernfahrt der Titanic – die Nacht vom 14. auf den 15. April im Jahr 1912 – hatte viele Todesopfer gefordert. Und jedes einzelne war eins zu viel.
Kapitel 46
Fünf Tage hatte Norah es in dem kleinen Haus ihrer Großmutter ausgehalten, bevor sie es den Protesten ihrer Großmutter und Chloe zum Trotz verließ.
Noch immer waren die Listen mit den Namen der Überlebenden verwirrend und unvollständig. Außerdem endeten die Anstellungsverhältnisse der Mannschaft offiziell mit der Minute des Untergangs. Das bedeutete für die Familien, denen die Heuer für gewöhnlich ausbezahlt wurde, damit die Seeleute sie nicht verprassten, bis sie zu Hause eintrafen, einen furchtbaren Schlag und kam einer finanziellen Katastrophe gleich. Diese Regelung traf auch die Familien derer, die als Überlebende auf den Listen standen.
Norah besuchte eine Bekannte im Southamptoner Stadtteil Northam. Ihr Mann war unter den Überlebenden, doch sie hatte nur einen Bruchteil des Geldes erhalten, mit dem sie eigentlich gerechnet hatte. Ihr einjähriger Sohn litt an einem hartnäckigen Husten, und sie wusste nicht, wie sie die Medizin für ihn bezahlen sollte.
Norah versprach, der Frau zu helfen, und stattete auf der Suche nach Hilfe einer anderen Bekannten einen Besuch ab. Deren Mann stand auf keiner Liste und somit lag der Verdacht nahe, dass er mit der Titanic untergegangen war.
Die Frau brach beim Anblick der Stewardess in Tränen der Verzweiflung aus. Norah geleitete die verstörte Witwe zurück in ihre Küche, bereitete ihr einen Tee zu und ließ sie von ihrer Not erzählen. Nachdem sie bei weiteren Familien früherer Arbeitskollegen und Freunde vorbeigeschaut hatte, wurde Norah erschreckend deutlich, dass in diesem Stadtteil so gut wie jeder von dem Schiffsunglück betroffen war und die Hilflosigkeit der Menschen ins Unerträgliche stieg 26 .
Sie konnte weder eine Medizin für den kleinen Jungen noch genügend Lebensmittel zum Verteilen auftreiben, und wirklichen Trost konnte sie auch nicht spenden. Einige der Leute, an deren Tür sie klopfte, um sich nach ihrem Ergehen zu erkundigen, knallten ihr sogar die Tür vor der Nase zu.
Traurig und wütend machte sich die junge Frau auf den Weg zurück zu ihrer Großmutter. Sie nahm den Menschen ihre Ablehnung nicht übel. Sie alle hatten mit großer Wahrscheinlichkeit Angehörige und viele sogar den einzigen Ernährer verloren. Sie wussten nicht mehr ein noch aus, und so reagierten sie mit Verzweiflung, Ablehnung und ungewöhnlich wenig Hilfsbereitschaft.
Nachdenklich bog Norah in die sonnendurchflutete Straße mit den hübschen bunten Häuschen ein, in der auch ihre Großmutter Lora wohnte. Es mü ssten Unterstützungsfonds für die Hinterbliebenen eingerichtet werden , überlegte sie. So würden vermutlich schneller und unbürokratischer Gelder für die Not leidenden Familien
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