Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
rollte langsam über ihre Wange.
Kapitel 45
Die Carpathia hatte einen kurzen Stopp am White Star Pier eingelegt und dort die Rettungsboote übergeben, die nicht dem Meer überlassen worden waren. Anschließend steuerte das Schiff den Pier Nummer 54 North River an. Obwohl es in Strömen aus dem abendlichen Himmel über New York regnete, sah Adam eine gewaltige graue Masse in den Hafenanlagen, bei der es sich um eine wartende Menschenmenge handeln musste.
Er ging ein paar Schritte weiter bis an die Reling und betrachtete das wogende Meer aus mehreren zehntausend Menschen vor sich. Allmählich gelang es ihm, einzelne Gesichter unter Regenschirmen, Capes und Hüten auseinanderzuhalten. Warteten diese Personen alle auf die Ankunft der Titanic -Überlebenden? Waren das die Angehörigen oder Schaulustige? Was würden die noch immer verwirrten, von den Wetterkapriolen der letzten Tage zusätzlich aufgewühlten Opfer des Unglücks bei ihrem Anblick empfinden?
In den vergangenen Tagen hatten die Passagiere der Carpathia gewaltige Eisberge gesehen, deren Anblick so manchen von ihnen erzittern ließ. Den eiskalten Nächten war strahlend warmer Sonnenschein gefolgt, und in einer Nacht hatten sich Blitz und Donner so schnell abgewechselt, dass manche der Schiffbrüchigen befürchteten, es würden schon wieder Notraketen abgeschossen. Sie hatten eine giftige Sturmsee erlebt, bei der das Wasser sogar durch die Salonfenster gekommen war, und jeden Morgen gab es Nebel, was ein ständiges Tuten des Nebelhorns notwendig gemacht hatte. Würde die Begrüßung ihrer Angehörigen nun ein weiteres Sturmchaos in ihrem Inneren anrichten? Die meisten Frauen und Kinder gingen als Witwen und Halbwaisen von Bord. Adam verstand nicht, warum noch so viele der Geretteten glaubten, ihre Lieben würden vielleicht mit einem anderen Schiff, der Californian oder der Birma , gebracht werden. Inzwischen mussten doch auch sie begriffen haben, dass die Rettungsboote bei Weitem nicht für alle an Bord der Titanic befindlichen Menschen ausgereicht hatten. War das ihre Art, das Unweigerliche zu verdrängen, die Trauer hinauszuzögern?
Was für ein Spießrutenlauf stand den Offizieren und der Besatzung der Titanic bevor! Und Mr Ismay, dem einzigen Überlebenden in einer höheren Position, als Lightoller sie auf der Titanic innegehabt hatte … Man erzählte sich, er habe nicht ein einziges Mal seine Kabine verlassen, sei vollkommen geistesabwesend und in den letzten Tagen gänzlich ergraut.
Adam half, die Landungsbrücken zu befestigen und ging somit als einer der Ersten von Bord . Um ihn her erhob sich ein lautes, unruhiges Stimmengewirr. Namen wurden gerufen und erleichterte Wiedersehensschreie mischten sich mit dem Fauchen der Magnesiumblitze der anwesenden Fotografen. Vor Freude weinende Menschen fielen sich in die Arme, bis die einen mit Entsetzen das Fehlen eines oder mehrerer Familienmitglieder bemerkten.
Ein Reporter bedrängte eine Frau, die verzweifelt versuchte, in der Menschenmenge ihre Angehörigen zu finden: „Stimmt es, dass die Offiziere versucht haben, die Passagiere mit Schusswaffen einzuschüchtern?“
„Davon habe ich nichts gesehen. Bitte lassen Sie mich durch.“
„Haben die Offiziere sich selbst erschossen? Oder gab es Schusswechsel unter den Passagieren, weil sie in eines der Rettungsboote wollten?“
„Alles ging ganz ruhig vonstatten. Bitte lassen Sie mich jetzt durch. Ich sehe meine Schwester.“
„Haben Sie einen Angehörigen verloren?“
Die junge Frau sah den Reporter stumm an. Dann sagte sie leise, für Adam kaum hörbar: „Ich war gerade acht Tage mit ihm verheiratet.“
„Man sagt, das Orchester spielte bis zum bitteren Ende. War ihr letztes Stück tatsächlich der Hymnus: Näher, mein Gott, zu dir?“
„Ich habe keine Musik gehört. Vielleicht in der ersten Klasse?“
„Wurde den Passagieren der dritten Klasse der Weg zu den rettenden Booten verwehrt?“
„Ich bin zweiter Klasse gereist. Ich weiß es nicht. Bitte …“
„Können Sie mir beschreiben, wie dramatisch die Panik an Bord war?“
Adam, ärgerlich darüber, dass dieser Mann keinerlei Rücksicht auf die Gefühle der jungen Frau nahm, drängte sich zwischen sie und den Reporter und flüsterte: „Gehen Sie schnell, Madam.“
„Ich danke Ihnen. In meinen Augen sind Sie alle Helden!“
Adam wartete, bis die Frau in der Menschenmenge verschwunden war, ehe er dem Journalisten den Weg wieder freigab.
Der von sehr unterschiedlichen, intensiven
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