Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
zu Ende bringen, was ich schon vor einer Woche hätte tun sollen.“ Norahs Gedanken schlugen Kapriolen. Was hätte er vor einer Woche tun sollen, damals, als er ihr durch die Straßen Belfasts gefolgt war?
„Habe ich Ihnen etwas getan, Mr Beckett?“ Ihre Stimme klang dünn und zittrig.
„Mir nicht.“
Sie hob den Kopf und sah den Mann direkt an. Ein flüchtiges Lächeln huschte über das unrasierte Gesicht, verschwand aber sehr schnell wieder. Norah erkannte diesen seltsam verklärten Gesichtsausdruck trotzdem sofort wieder. Genau so hatte Richard dreingeschaut, als er Helena kennengelernt hatte. Und Helena war auch diejenige, die in Kontakt mit Beckett stand!
Diese Frau war wunderschön und wusste ihre Reize und ihre aufregende, tiefe Stimme der Männerwelt gegenüber sehr gezielt einzusetzen. Zudem verfügte sie über Geld. Was hatte Beckett wohl mehr gereizt – Helenas Verführungskünste oder ein großzügiges finanzielles Angebot von ihr?
Da sie nichts zu verlieren hatte, redete Norah einfach drauflos. Gleichzeitig wehrte sie sich dagegen, dass er sie tiefer in den schmalen Durchgang zwischen den Hauswänden hineindrängte.
„Hat Miss Andrews Ihnen gesagt, um was es ihr eigentlich geht?“, keuchte sie vor Anstrengung.
„Eine solche Frau reizt und quält man nicht.“
„Eine solche Frau kann nicht damit umgehen, wenn sich ein Mann für eine andere entscheidet. Das ist es, was passiert ist, Mr Beckett.“
„Halt den Mund!“, fuhr er sie so heftig an, dass sie sich unwillkürlich duckte. Dadurch gelang es ihm, sie ein paar weitere Schritte in den Durchgang zu schieben. Hier war es entsetzlich dunkel und niemand konnte sie sehen. Was würde der Mann jetzt mit ihr tun? Würde er sie umbringen? Hatte Helena ihn dazu beauftragt? Trotz der Kühle im Schatten der Gebäude rann Norah der Schweiß über den Körper. Ihre Beine drohten ihren Dienst zu versagen.
„Sie hatte es auf einen Mann abgesehen, der sich dann aber für mich entschied. Verstehen Sie denn nicht? Nur aus diesem Grund will sie mich loswerden!“
Er wollte sie schlagen, doch das misslang, da die Gasse zu eng war, um auszuholen.
Norah wusste nicht, ob sie ihn mit weiteren Erklärungen irgendwie beeinflussen konnte oder ihn nur noch zusätzlich reizen würde. Doch welche andere Chance hatte sie schon?
„Sie will diesen Mann haben, und deshalb sollen Sie mich aus dem Weg räumen“, keuchte sie.
Ein Gegenstand schimmerte im Zwielicht bläulich auf. Norah drückte sich erschrocken dichter an die Wand. Der Mann hielt ein Messer in seiner rechten Hand!
„Aber das ist alles sowieso unnötig geworden. Richard war auf der Titanic.“ In ihr schnürte sich alles zusammen, und der Schmerz verdrängte beinahe ihre Angst. „Vermutlich ist er tot.“
Norah bemerkte Becketts Zögern. Noch war der Mann offenbar nicht so tief gesunken, dass er kaltblütig zu töten bereit war. Hoffnung keimte in ihr auf, und gleichzeitig kamen auch ihre wild rasenden Gedanken zur Ruhe.
„Mr Beckett, warum werfen Sie Ihr Leben weg? Ihr Plan für Katies Befreiung war grandios, und auch der zur Verhaftung dieses Ryan, wenn er denn durchgeführt worden wäre. Sie haben da eine besondere Begabung! Nicht jeder kann ausweglos scheinende Situationen so präzise durchschauen und dadurch Menschenleben retten. Wissen Sie denn nicht, wie viel Ihr Eingreifen, Ihre Planung und die Durchführung mir, Katies Mutter und allen unseren Freunden bedeutete? Sie haben neuen Mut in unsere verzweifelten Herzen gebracht. Und tatsächlich durfte Katie dank Ihnen zu ihrer Familie zurückkehren. Warum wollen Sie diese Gabe wegschmeißen?“
Norah hob den Blick. Beckett stand vor ihr, das Messer noch immer drohend erhoben. Doch er hörte ihr offenbar aufmerksam zu. Schnell fuhr sie fort: „Bezahlt Miss Andrews Sie für das hier? Wiegt das Geld, das sie Ihnen geboten hat, wirklich einen Mord auf? Glauben Sie, dass dieses Geld Sie glücklich macht? Dass eine Frau wie Miss Andrews Sie glücklich machen wird? Die Frage ist doch, was der Sinn Ihres Lebens sein soll, Mr Beckett. Möglichst bequem und unbeschwert zu leben? Oder vielmehr die Welt zum Besseren zu verändern? Sie haben den Menschen so viel zu geben. Und im Gegenzug würden diese Ihnen viel zurückgeben, das dürfen Sie mir glauben! Andere zu beschenken bereichert unser Leben.“
„Was wissen Sie schon über mich? Ich wurde bei Scotland Yard entlassen …“
„Und diesem Umstand trauern Sie noch immer nach? Aber Sie haben
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