Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
Handlungsweise missbilligt. Doch seit Norah Freiburg wieder den Rücken gekehrt hatte, wurde er das unbestimmte Gefühl nicht mehr los, dass er in seinem Leben etwas Wichtiges verpasste. Es bereitete ihm nahezu körperliche Schmerzen, wenn er darüber nachdachte, ohne jedoch jemals etwas an diesem Zustand geändert zu haben. Ihr Erstaunen, nachdem sie ihn einmal laut lachen gehört hatte, kam ihm wieder in Erinnerung. War er wirklich so … so hölzern, so leblos?
Richard umklammerte den Mantel fester, den er über seinen Schoß gelegt hatte. War es nur der kühle Fahrtwind, der ihn plötzlich frösteln ließ, oder vielmehr die Erkenntnis, dass er seit diesen Tagen im Frühsommer vergangenen Jahres – mit Ausnahme einiger weniger Gespräche mit Frau Schnee – nicht mehr frei und aus einem inneren Bedürfnis heraus gelacht hatte?
Der junge Mann verdrängte diese beklemmenden Gedanken energisch. Das Leben bestand nun einmal nicht nur aus Fröhlichkeit und Lachen!
Erst als er vor dem Haus der Weltes aus dem Automobil stieg, wurde ihm bewusst, dass er noch immer dieselbe Kleidung trug, die er zur Arbeit angehabt hatte. Ärgerlich über sich selbst sah er an sich hinunter und zog schließlich, obwohl er sein Ziel bereits erreicht hatte, doch noch den Mantel über. Auf diese Weise konnte er die etwas unpassende Kleidung zumindest notdürftig verbergen.
Franz eilte voraus und öffnete ihm die Tür, woraufhin Richard eine Münze hervorzog und sie seinem Chauffeur in die Hand drückte. Im Haus begrüßten ihn die älteren Kinder der Familie Bokisch höflich und sprangen dann lärmend davon, während Herr Welte und Herr Bokisch ihn in eines der kleineren, elegant eingerichteten Nebenzimmer winkten.
„Entschuldigen Sie bitte, dass wir Sie so überrumpelt haben, Herr Martin“, begann Herr Bokisch und strich sich mit der Hand über seinen gepflegten dunklen Bart. „Wie Sie wissen, wurden ein paar unserer in Zusammenarbeit mit Steinway & Sons erbauten pneumatischen Klaviere in den White Star- Liner Olympic eingebaut. Für das Schwesterschiff Titanic, das kurz vor der Fertigstellung steht, wurden nun ebenfalls diese Steinway/Welte-Klaviere vorgesehen.“
Richard nickte, da er von diesen Aufträgen bereits Kenntnis hatte.
Herr Bokisch griff nach seinem Mantel und schlüpfte hinein. Während er sich das dunkle Seidentuch um den Hals schlang, fuhr er fort: „Man teilte uns mit, ein paar der Transportkisten seien schwer beschädigt in Belfast angekommen. Ich reise noch heute nach Irland, um mir den Schaden zu besehen, und Sie werden mich begleiten, Herr Martin. Je nachdem, wie viele der Instrumente beschädigt wurden, werden wir beide gut mit Arbeit ausgelastet sein.“
Richard verspürte keine große Verwunderung darüber, dass er nicht im Vorfeld gefragt wurde, ob er andere Verpflichtungen hätte, die ihn daran hindern konnten, von einer Sekunde auf die nächste Freiburg in Richtung Irland zu verlassen. In der Fabrik wusste vermutlich jeder, dass es außer seiner Arbeit nichts und niemanden gab, an das oder den er gebunden war.
Dennoch spürte er einen gewissen Unwillen in sich aufkeimen. Eine Reise nach Irland war ja nicht gerade eine Fahrt in seine Heimatstadt Trossingen … oder nach Hamburg, Berlin, Düsseldorf, Cöln, Barmen oder München, wo die Welte-Mignon-Pianos über renommierte Pianohäuser vertrieben wurden.
Diese Reise würde eine immense Umstellung seines gesamten Lebensrhythmus mit sich bringen, und darauf war er weder eingestellt, noch verspürte er besonders große Lust dazu. Man hätte ihn zumindest fragen können …
Herr Bokisch verließ ohne ein weiteres Wort den Raum und verabschiedete sich von seiner Familie. Währenddessen reichte Herr Welte Richard seine Zug- und Schiffskarten.
Erstaunt betrachtete Richard den Zielort ihrer Reise. „London? Sprachen Sie vorhin nicht von Irland, Herr Welte?“
„Ja, natürlich. Belfast wird Ihr eigentliches Ziel sein. Doch mein Schwager verbindet mit dieser unplanmäßigen Reise noch ein Geschäftstreffen mit Lord Pirrie, dem Direktor der Belfaster Werft Harland & Wolff . Wir haben Sie nicht nur aufgrund Ihrer Englischkenntnisse für diese Reise ausgesucht, Herr Martin, sondern auch, weil Sie bereits mehrfach bewiesen haben, wie sicher und galant Sie mit gesellschaftlich hochrangigen Persönlichkeiten umzugehen wissen.“
Richard nickte scheinbar ruhig, war sich jedoch der Tatsache durchaus bewusst, wie viel Vertrauen ihm vonseiten der Firmenleitung
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