Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
verdienen.
Vor einem einstöckigen, weiß getünchten Gebäude mäßigte Norah ihre Schritte und bedeutete Richard, ihr hinein zu folgen. Die schwere Eingangstür aus dunklem, verwittertem Holz war nicht verschlossen, weshalb Norah sie einfach aufschob und ihm voraus in einen kleinen, quadratischen Flur trat. Richard folgte ihr zögernd und zuckte prompt zusammen, als ihnen durch eine nur angelehnte Tür tiefe, fröhliche Männerstimmen und Gelächter entgegendrangen.
Als Norah die Eingangstür zuzog, wurde es dunkel in dem winzigen Raum.
„Du kannst deine Jacke da drüben auf den Stuhl legen“, wies sie Richard an und fügte lachend hinzu: „Wenn du ihn denn im Dunkeln findest.“
Richard drehte sich um, wobei er mit dem Schienbein unsanft gegen ein Möbelstück stieß. Er verzog das Gesicht und stöhnte auf, als ein stechender Schmerz durch sein Bein schoss.
„Du hast ihn gefunden“, bemerkte Norah fröhlich.
Behutsam, um sich nicht nochmals wehzutun, zog er seine Jacke aus und tastete diesmal etwas vorsichtiger um sich, bis er die bereits mit mehreren Kleidungsstücken behängte Stuhllehne fand. Diese junge Frau war eindeutig noch dieselbe wie vor etwa einem Jahr: impulsiv, unbekümmert und wohl schwerlich durch irgendetwas zu erschüttern.
Norah ergriff Richard an den Unterarmen und drückte sich an ihm vorbei, was in dem beengten Raum nicht ganz einfach war. Ihre selbstverständliche Berührung verwirrte ihn, er schob dies allerdings auf seine fehlenden Erfahrungen mit Frauen. Als sie die nur angelehnte Tür aufstieß, drang zumindest ein wenig Licht in den Flur. Schnell hängte Richard seine Jacke zu den anderen und stieg, gegen die Helligkeit im angrenzenden Raum anblinzelnd, über die hohe Schwelle.
Einerseits war er gespannt auf Norahs Familie, andererseits wusste er nicht so recht, ob er mit den Leuten etwas anzufangen wusste. Sie waren nun mal einfache Menschen, denen das Schicksal nicht gerade die Sonnenseite des Lebens zugedacht hatte. Richard befürchtete, dass sie vielleicht alle in derselben rasanten Weise durch ihr Leben schlitterten, wie es auch Norah tat. Vielleicht war das ihre Art, der Armut ohne Aussicht auf Besserung auszuweichen? Er atmete tief ein und wappnete sich konzentriert für die Begegnung mit den anderen Caseys.
„Hallo!“, rief Norah in die Runde. „Ich habe Besuch mitgebracht. Richard aus Deutschland.“
Unter dröhnendem Lärm wurden Stühle über den Boden geschoben, da alle im Raum Anwesenden sich erhoben. Ein Mann etwa in Richards Alter und fast ebenso groß wie er selbst kam mit festen Schritten auf ihn zu, packte seine Hand und schüttelte sie kräftig. Dabei grinste er breit, und Richard glaubte, ein Grübchen hinter seinem dunklen Vollbart erkennen zu können.
„Ich bin Adam, Norahs Bruder. Willkommen in Belfast, Rick“, sagte er mit leicht rauchiger Stimme und auf überraschend ruhige Art.
Rick? Richard öffnete protestierend den Mund, doch schon drängte sich Adams älteres Ebenbild, mit Sicherheit sein und Norahs Vater, vor ihn und begrüßte ihn mit kräftigem Handschlag.
„Willkommen in meinem Haus, Rick. Ich bin John. Norah hat uns schon viel von dir erzählt. Bist ein guter Junge. Würde mich nicht wundern, wenn du irische Vorfahren hättest.“
„Nicht, dass ich wüsste. Vielen Dank …“ Weiter kam Richard nicht. Ein etwas kleinerer, aber umso breiterer Mann mit hellblonden Haaren und unzähligen Sommersprossen auf dem jungenhaften Gesicht baute sich vor ihm auf. Sein Händedruck ließ Richard um seine Finger fürchten, und als sich die gewaltige linke Hand des Burschen mit einem freundlichen Schlag auf seine rechte Schulter senkte, ging er unwillkürlich ein wenig in die Knie.
„Hey, ich bin Dylan. Schön, dich kennenzulernen, Rick.“ Dylans hohe, leicht scheppernde Stimme stand in einem eigenartigen, amüsanten Gegensatz zu seinem muskulösen, breiten Körperbau.
Richard wollte wieder anmerken, dass er gern mit seinem vollen Namen angesprochen wurde, aber von irgendwoher wirbelte plötzlich eine Frau herbei, die ihn ohne Vorwarnung fest in die Arme schloss.
„Rick! So eine Freude! Als Edwin und Betty schrieben, du und Onkel Karl würden nach Belfast kommen, habe ich Norah gleich losgeschickt, damit sie euch einlädt. Wo ist denn Karl?“, wandte sie sich ohne Atem zu holen an ihre Tochter, die die Begrüßung grinsend beobachtet hatte.
Mrs Casey hatte Karl Bokisch noch nie getroffen, dessen war sich Richard sicher, dennoch nannte
Weitere Kostenlose Bücher