Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
keine Bekannten hatte, näherte sich Richard verwundert dem Tor, erkannte in der Person aber sehr schnell Norah. Er war selbst überrascht, wie sehr es ihn freute, sie zu sehen. Mit einem Lächeln auf den Lippen trat er zu ihr.
„Edwin Welte hat meiner Mutter von deiner und Onkel Karls Anwesenheit geschrieben.“ Sie öffnete das Tor und begrüßte ihn mit einem fröhlichen Lächeln.
„Norah, wie geht es dir?“, erkundigte er sich höflich, aber noch immer deutlich verwirrt. Er hatte keinesfalls damit gerechnet, Norah wiederzusehen, zumal sie eine Person war, die er mit seinem nüchternen Verstand überhaupt nicht einordnen konnte, was ihre erneute Begegnung eventuell erschweren konnte.
„Mir geht es gut, danke. Ist Onkel Karl auch hier?“
„Er hat vor ein paar Minuten das Anwesen verlassen. Tut mir leid.“
„Das ist nicht schlimm. Wenn ich Onkel Edwin recht verstanden habe, seid ihr mindestens für eine Woche hier in Belfast?“
Richard nickte zustimmend und überlegte dabei, ob er Norah wohl ins Haus einladen sollte. Allerdings reagierte die junge Frau wieder einmal schneller, als er seine Überlegung überhaupt zu Ende bringen konnte. Offenbar hatte sie ihre zweifelhafte Eigenschaft, von einer Aktion in die nächste zu stürmen, in der Zwischenzeit nicht abgelegt. „Ich würde mich gern bei dir für die Zeit im Breisgau revanchieren. Was hältst du von einer kleinen Führung durch Belfast?“
Der Instrumentenbauer zögerte nur einen kurzen Moment, bevor er auf ihren Vorschlag einging. Eine Stadterkundung mit Norah, die hier geboren war, würde bestimmt interessant sein. Außerdem musste er zugeben, dass er ihre Bekanntschaft gern wieder auffrischen würde. Das Mädchen hatte ihm mit ihrer unbeschwerten Art damals gutgetan.
„Schön“, erwiderte Norah und wandte sich schon wieder zum Gehen.
„Moment. Ich würde mich gern noch umziehen.“
„Warum denn? Du bist so korrekt und ordentlich gekleidet wie immer“, zog Norah ihn schon wieder auf.
„Das ist meine Arbeitshose“, erklärte er und warf dabei einen prüfenden Blick auf ihr Erscheinungsbild.
Sie trug ein adrettes, modisches Kostüm aus grauem Tweed, einen passenden Hut, der leicht schief auf ihrem Kopf saß – vermutlich musste das so sein – und an dessen Seite eine kleine, eingefärbte Feder lustig auf und ab wippte.
„Die Abende sind um diese Jahreszeit kurz“, belehrte sie ihn. Diese Erklärung erschien ihr wohl ausreichend, denn sie drehte sich sogleich um und marschierte in ihrem üblichen schnellen Tempo los.
Richard schloss sorgfältig das Tor hinter sich und eilte ihr nach, wobei er sich unbehaglich umblickte. Wie mochte es auf etwaige Beobachter wirken, wenn er einem Mädchen nachlief?
Als er Norah erreicht hatte, stürmte sie weiter, deutete hierhin und dorthin und erklärte ihm, was sich in welchem Gebäude befand. Nebenbei gab sie ihm noch einen kleinen geschichtlichen Abriss der Gegend.
Schließlich marschierten sie im Eilschritt über den Belfast Castle Place. Richard blieb kaum die Zeit, die elektrischen Trams, die fortschrittlichen, Rad fahrenden Damen und die teilweise sechsstöckigen Häuser zu betrachten, die abwechselnd in Grau, Rot oder Weiß gehalten waren.
Je länger er neben der Irin herlief, desto kleiner wurden die Häuser, die Straßenzüge wuchsen enger zusammen, und die vornehmen Kutschen und in der Abendsonne blitzenden Karosserien der Automobile wurden durch einfache Pferdewagen und von Hand gezogene Leiterwagen ersetzt. Richard hatte schon längst die Orientierung verloren und er schaute sich verunsichert um. Dies war nicht gerade das Stadtgebiet, in das es ihn zog. Ob er Norah bitten sollte, ihn zurück in die größeren, prachtvolleren Straßen zu bringen?
„Norah …“
„Hast du Hunger? Komm, ich stelle dich meiner Familie vor“, unterbrach sie ihn vergnügt und bog in eine andere Gasse ein. Dicht an dicht standen dort die Häuser. Viele von ihnen waren nur einstöckig, doch hin und wieder streckte sich ein etwas höheres Gebäude mit einem zweiten Stockwerk dem langsam dunkler werdenden Himmel entgegen.
Richard verspürte eine nicht geringe Erleichterung darüber, dass er von dem Mädchen rechtzeitig unterbrochen worden war, denn womöglich hätte Norah sich angegriffen gefühlt, wenn er sich abfällig über diese Wohngegend geäußert hätte. Natürlich besaßen Norah und ihre Eltern ein eher bescheidenes Haus. Immerhin musste sie ihren Lebensunterhalt als Stewardess
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