Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
sich rundum wohl und geborgen. Sie alle kannten ihr Wesen und wussten damit umzugehen. Hier musste sie es nicht verstecken oder mit viel Arbeit besänftigen, so wie man ein temperamentvolles Pferd durch ausdauernde Bewegung zur Ruhe bringen konnte.
Bei ihrer Arbeit war das etwas anderes. Seit sie vor fünf Jahren begonnen hatte, als Stewardess auf Schiffen zu arbeiten, musste sie in den Zeiten an Bord sehr streng mit sich selbst umgehen. Keiner ihrer Arbeitskollegen und schon gar nicht ihre Gäste wussten, weshalb sie gern die schwerste Arbeit auf sich nahm, sich für zusätzliche Aufgaben meldete oder nachts das Schiffsdeck im zügigen Laufschritt umrundete. Am liebsten mochte sie es, wenn auf ihren Wanderungen an Deck der Wind mit Macht um sie wehte und kraftvoll an ihrem Körper zerrte. Zum einen baute sie beim Anstemmen gegen den Sturm zusätzlich Energie ab, zum anderen liebte sie diese wilde, ungezähmte Kraft – vermutlich, weil sie der ihren nicht unähnlich war. Sie brauchte diese Momente, um es auf dem doch beengten Schiff auszuhalten.
Norah lächelte, versuchte, auf jede der unzähligen an sie gerichteten Fragen eine Antwort zu geben, wobei sie ständig unterbrochen wurde, und drehte sich dabei immer wieder um sich selbst, um alle Anwesenden ansehen zu können.
„Ihr weckt noch die Kinder“, zischte sie schließlich und schaute besorgt zu dem dicken Vorhang hinüber, hinter dem sie die Betten der vier Kerry-Kinder wusste.
„Ach, was denkst du denn?! Das sind fleißige irische Jungs, die tagsüber anständig arbeiten. Die schlafen nachts vor lauter Müdigkeit wie die Steine“, donnerte die Stimme von Ben durch den Raum, und sein Vaterstolz war nicht zu überhören.
Norah zwängte sich gemeinsam mit Chloe und Mia auf die alte, verschlissene Couch und ließ sich von den Anwesenden berichten, was seit ihrem letzten Aufenthalt in Belfast alles geschehen war. Sie genoss es, wieder bei ihren Freunden zu sein, die vertrauten, lieben Gesichter zu sehen und die altbekannten, immer gleichen Geschichten zu hören. Zufrieden lehnte Norah ihren Kopf an Chloes Schulter und die Frau tätschelte ihr fest die Hand.
Es fiel Norah schwer, nach einer Stunde den warmen, kuscheligen Platz zwischen den beiden Frauen aufzugeben, doch sie wollte noch bei den Schwestern Mellows vorbeisehen.
„Ich muss los“, begann sie, sich schon einmal zu verabschieden, immerhin kannte sie ihre Freunde. Es würde noch mindestens eine halbe Stunde dauern, bis sie hier tatsächlich wegkam.
„Das geht nicht. Wir haben dir noch gar nichts angeboten!“, widersprach Mia sofort und hievte sich ebenfalls von der Couch.
„Da fällt mir ein – hat jemand von euch Kartoffeln abzugeben?“, fragte Norah in die Runde.
Ben sah sie ernst an. „Für Ella und ihre Familie?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Er blickte fragend seine Frau an, doch Mia schüttelte bedauernd den Kopf. „Wir haben selbst keine einzige mehr.“
„Ich bringe ihnen morgen ein paar vorbei“, versprach Chloe leidenschaftlich, und Norah wurde den Verdacht nicht los, dass es ihre letzten sein würden.
„Habt ihr etwas über Sean erfahren?“, drängte es Norah zu fragen.
„Nein. Er ist sofort von der Lohnliste gestrichen worden, als er ein paar Tage fehlte.“ Ben, der ebenfalls bei Harland & Wolff beschäftigt war, schüttelte grimmig den Kopf.
„Wir haben alle Gassen und Wege abgesucht, alle Leute befragt, die uns über den Weg gelaufen sind. Nichts.“ Daniel, Catherines Verlobter, tat es seinem Bruder Ben nach und schüttelte ebenfalls den Kopf.
„Ella ist sehr tapfer“, flüsterte Chloe.
„Sie akzeptiert die Möglichkeit, dass er tot sein könnte, und weiß auch, dass das Leben weitergeht. Für sie und für ihre Kinder. Mit ihnen lacht sie schon wieder“, erzählte Catherine und hängte sich bei Daniel ein.
„Hast du nicht noch ein paar Babysachen für den kleinen Evan, Mia? Er ist nur in ein Tuch gewickelt“, erkundigte sich Norah.
Mia schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich habe die Babysachen vor einem Jahr gegen Nahrungsmittel eingetauscht. Damals, als Ben so lange krank war.“
„Die O’Dea-Kinder sind aus den Babysachen herausgewachsen. Frag doch da mal, Norah. Oder besorg du Stoff, und ich nähe Ella etwas für den kleinen Evan“, schlug Chloe vor.
„Danke, meine Freunde, ihr seid einfach wunderbar“, sagte Norah und umarmte die Frauen ein weiteres Mal.
Mia brachte sie bis an die windschiefe Tür. Der Schlamm in
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