Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
sie ihn „Karl“, als würden sie sich schon von Kindesbeinen an kennen.
Die tiefen Grübchen in Norahs Wangen verrieten Richard, wie königlich sie sich amüsierte. „Unterwegs, Mama. Er ist sehr beschäftigt.“
„Die Welt besteht nicht nur aus Arbeit, Geld und Mühen. Du hast das erkannt, Rick, und deshalb bist du auch gleich mit Norah mitgekommen. Es ist so schön, dich kennenzulernen! Setz dich doch. Ich koche uns was.“
Noch immer vollkommen überrumpelt und verwirrt drehte Richard sich zu dem grob gezimmerten Holztisch um. Adam schob sich in eine Bank, beugte sich herüber, ergriff Richard am Arm und zerrte ihn neben sich. Auch Dylan quetschte sich noch zu ihnen.
„Du baust also bei unseren deutschen Verwandten Klaviere und Orgeln. Auch diese, die von alleine spielen, nicht?“, begann Norahs Vater eine Unterhaltung, während er sich auf dem Stuhl am Kopfende des Tisches niederließ.
„Ja, Mr Casey. Ich arbeite unter anderem an den sogenannten pneumatischen Instrumenten …“ Richard unterbrach sich, als er die gerunzelte Stirn des Mannes sah. Hatte er etwas Falsches gesagt? Das wäre ihm sehr unangenehm gewesen, war er doch immer um einen korrekten Umgang mit seinen Mitmenschen bemüht.
Norah beugte sich zu ihrem Vater herunter und flüsterte leise mit ihm. Ein Grinsen, Norahs sehr ähnlich, erschien auf seinem bärtigen Gesicht, ehe er sie, nicht gerade leise, fragte: „Dann hat Großmutter Lora also recht?“
„Ja, das hat sie. Die Deutschen sind sehr förmlich und korrekt“, erwiderte sie und zwinkerte den jungen Männern auf der Bank zu, um anschließend zu ihrer Mutter hinter die dünne, provisorische Holzwand zu huschen, die die Kochnische vom Wohnzimmer trennte.
„Wir verstehen nicht viel von Instrumenten, Rick. Aber tanzen, das können wir!“ Das Lachen von John drohte die Außenwände des Hauses zum Bersten zu bringen.
Neben ihm lehnte sich Dylan mit verschränkten Armen zurück und stützte sich mit dem breiten Rücken an die Wand. Dabei knackte die Bank so bedenklich, dass Richard sich bereits darauf einrichtete, jeden Augenblick mitsamt den beiden Iren unter dem Tisch zu landen. Doch das Möbelstück hielt zu seiner Überraschung der Belastung stand.
Als Adam sich ihm zuwandte, knarrte die Bank nicht weniger bedrohlich, was es Richard erschwerte, sich auf die Frage des Mannes zu konzentrieren.
„Wie lange wirst du in Belfast sein?“
„Wir hoffen, dass wir die Reparaturen beenden können, bevor die Titanic von der Ausrüstungswerft nach Southampton gebracht wird.“
„Also diese Woche noch!“, stellte Adam für ein Mitglied der Familie Casey erstaunlich nüchtern und ruhig fest. Richard hätte darauf gewettet, dass Norahs Bruder ebenfalls ein unruhiges Energiebündel sein würde. Die Mutter der beiden passte jedenfalls in das Bild, das er sich im Voraus von allen anderen Caseys gemacht hatte. Aber vielleicht bildete Adam den beschaulichen Gegenpart zu seiner Schwester – aus der Not heraus, weil sie ihm in ihrem Überschwang nie eine Chance zum Reden und Handeln gelassen hatte?
„Hast du sie schon gesehen?“, rief Norah aus der Küche herüber, doch noch ehe Richard antworten konnte, schrak er zusammen, da über seinem Kopf plötzlich etwas aus der Wand schnellte. Der laute Ruf eines künstlichen Kuckucks ließ ihn gleich noch einmal zusammenfahren. Dylan lachte dröhnend und auch Norahs Vater stimmte in den Heiterkeitsausbruch mit ein.
Adam hingegen schüttelte nur den Kopf. „Dieses Ding erschreckt mich jede Stunde. Ich glaube, Norah hat es nur deshalb aus dem Schwarzwald angeschleppt, um mich zu ärgern.“
Dylan beruhigte sich allmählich wieder und erklärte: „Hey, ich liebe diesen Vogel! Wenn wir erst verheiratet sind, wird Norah ihn hoffentlich mit in unser Haus nehmen.“
„Ihr wollt heiraten?“, erkundigte sich Richard überrascht und fragte sich, wie es ein Mann länger als zwei Wochen mit einem solchen Wirbelwind unter einem Dach aushalten sollte.
„Lass dir nichts erzählen, Rick. Bis jetzt hat er meine Tochter noch nicht gefragt, und mich übrigens auch nicht. Außerdem will er, so vermute ich, sowieso nur diesen Kuckuck haben“, erklärte John gelassen.
Richard runzelte die Stirn. Es fiel ihm schwer, diese ihm doch fremden Männer einfach mit ihren Vornamen anzusprechen, aber zumindest bei Dylan, von dem er tatsächlich nur den Vornamen wusste, blieb ihm nichts anderes übrig.
„Dylan, was tust du so?“, wagte er sich schließlich
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