Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
und erstaunlicherweise ein paar dicke Bücher in einer weiteren Kiste. Neben drei Stühlen und dem kleinen Tisch war das alles, was sich in dem primitiven Raum befand. Und dennoch fühlte Richard keine Kälte oder gar Unbehagen. Einen Moment lang überlegte er, ob dies an der tadellosen Sauberkeit des Zimmers lag, doch als er Chloe mit ihrer gewaltigen Stimme lachen hörte, war ihm klar, was tatsächlich der Grund für sein Wohlbefinden war: Er fühlte sich hier willkommen, und das Haus, so primitiv es auch sein mochte, spiegelte die pralle Lebensfreude seiner Bewohnerin wider.
„Hier, Richard, Brombeerblättertee. Er wird dir guttun.“
Richard nahm den Tonbecher aus den fleischigen Händen der Frau und bedankte sich. Während er weiterhin mit einer Hand das Tuch gegen seine Stirn presste, setzte er mit der anderen Hand die Tasse an den Mund – und zuckte zusammen, als das brühend heiße Getränk seine Lippen berührte.
Norah, die sich an die Wand gelehnt hatte, musterte ihn prüfend, kam dann näher und ging vor seinem Stuhl in die Hocke. „Was ist eigentlich los mit dir?“, fragte sie besorgt.
„Ich habe mir den Kopf gestoßen“, erwiderte er sarkastisch und erntete dafür ein Lächeln der jungen Frau.
Wieder traf ihn dieser nachdenkliche Blick, bevor sie leise fragte: „Soll ich dich zurückbringen? Du fühlst dich in dieser Gegend unwohl, nicht wahr?“
Richard sah Norah lange an, ehe er leicht den Kopf schüttelte und zu erklären versuchte, was ihn – unter anderem –, aus dem Konzept brachte: „Chloe ist sehr nett, bei ihr fühle ich mich wohl, Norah. Aber das Elend dort draußen in den Gassen hat mich erschreckt. So viel Not habe ich noch nie gesehen.“
„Viele von uns leben so, Richard. Außerdem hast du nur die Gassen und die alten Hütten gesehen, nicht das Leben, das in ihnen steckt.“
„Wie kann man unter solchen Umständen überhaupt leben?“
„Was du siehst, sind halb zerfallene, schiefe und heruntergekommene Häuser; kahl, grau, feucht und unwirtlich. Sie scheinen das Leben hier widerzuspiegeln, aber das ist häufig tatsächlich nur ein Schein. In den Häusern leben Menschen – Menschen voller Herzlichkeit, Liebe, Wärme. Sie sind füreinander da und haben einen unglaublichen Lebenswillen und eine gehörige Portion Humor. Es gibt Leute in diesem Viertel, die ihren Lebenssinn und ihre größten Glücksmomente darin sehen, anderen zu helfen. Leider gibt es auch anderes: die Schicksale von Menschen, die sich aufgegeben haben und verzweifeln. Weißt du noch, wie du zu mir gesagt hast, das Leben bestehe nicht nur aus Lachen und Glücklichsein?“
Richard nickte und schämte sich dieser Worte. Damals hatte er Norah indirekt eine gewisse Oberflächlichkeit unterstellt, die ganz sicher nicht zu ihrer Persönlichkeit gehörte.
„Uns bleibt manchmal nur die Selbstironie, das Lachen und der Versuch, trotz allem glücklich zu sein. Das kostet nichts und niemand kann es uns rauben.“
„Und wir haben unseren Gott, der uns liebt und uns immer nahe ist“, sagte Chloe, und in ihrer Stimme schwang so viel Begeisterung mit, dass die Worte fast wie Jubel wirkten. „Wir sind Königskinder und eines Tages werden wir in seinem Himmelreich sein. Wenn das kein Grund zum Glücklichsein ist …“
Richard hob den Kopf. Erst jetzt wurde ihm die Stille in dem beengten Raum bewusst und dass alle Zeuge des leise geführten Gesprächs zwischen ihm und Norah geworden waren.
Norah kauerte noch immer vor ihm, und auf ihrem jungen Gesicht lag ein amüsierter Ausdruck. Obwohl die einzige Lichtquelle im Raum hinter ihrem Rücken stand und ihr Gesicht kaum zu sehen war, konnte er die tiefen Grübchen in ihren Wangen erkennen, die er ungemein anziehend fand.
Mit einer langsamen Bewegung nahm er das feuchte Tuch von seiner Stirn und streckte es Norah entgegen. „Das sollte schnell zum Trocknen aufgehängt werden, damit der kleine Evan etwas zum Anziehen bekommt.“
„Du hast dir seinen Namen gemerkt“, stellte Norah mit sanfter Stimme fest. Sie nahm ihm das Tuch ab und erhob sich.
Richard blickte ihr nach, als sie zum Ofen hinüberging, das Tuch auswusch und über eine quer durch den Raum gespannte Leine hängte. Norah, die immerzu mit etwas beschäftigt zu sein schien oder mit den Gedanken schon wieder weit vorausgeeilt war, war demnach aufgefallen, dass er sich für gewöhnlich nur die Namen der Menschen einprägte, die für ihn und seine Ziele wichtig sein könnten. Peinlich berührt senkte er
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