Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
provisorischen Werkstatt zwischen Packkisten, Klavieren, Werkzeugbehältern und Regalen auf und ab, während Richard mit viel Geduld und Augenmaß und mithilfe eines winzigen Messers ein paar letzte überstehende Späne des Schnitzwerks entfernte.
Schließlich richtete er sich auf und betrachtete das Stück zufrieden im Licht der grellen Deckenlampen.
„Wir werden es nicht rechtzeitig schaffen“, murmelte sein Chef und strich sich durch den gepflegten schwarzen Bart.
Richard schwieg. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass eine der pneumatischen Maschinen zu stark beschädigt war, um ohne die eilends aus dem Schwarzwald angeforderten Ersatzteile instand gesetzt werden zu können, war ihm klar geworden, dass zumindest dieses Klavier nicht rechtzeitig auf der Titanic installiert werden konnte, ehe das Schiff in Richtung Southampton auslief.
„Sie könnten das Instrument jetzt schon nach Southampton schaffen und dort auf die Lieferung der Ersatzteile warten“, schlug Richard vor. „Entweder reparieren wir es in einem der dortigen Lagergebäude der White Star Line oder fügen es gleich auf dem Schiff mit den Ersatzteilen zusammen.“
Herr Bokisch blieb einen Moment stehen, sah Richard durchdringend an und wandte sich gleich darauf wieder ab, um sein unruhiges Auf-und-ab-Schreiten weiter fortzusetzen.
„Meine Frau hat mir geschrieben. Unserem Kind geht es nicht gut. Sie bat mich, so bald wie möglich nach Hause zu kommen“, überlegte er laut.
Richard erhob sich und ging hinüber zu dem noch immer nur halb zusammengebauten Klavier, dessen Holz im Licht der Glühbirnen dunkel und glänzend dalag. Herrn Bokischs angespannte Gesichtszüge ließen die Sorge um sein krankes Kind deutlich erkennen. „Wenn Sie den Transport nach Southampton veranlassen, Herr Bokisch, kann ich mich allein um den Rest kümmern.“
Sein Chef legte die Hand auf Richards Schulter. „Ich weiß, ich kann mich auf Sie verlassen, Martin. Also gut, ich werde noch den Transport nach Southampton begleiten und dann abreisen.“
Sein Arbeitgeber verließ mit hängenden Schultern den Schuppen, woraufhin Richard sich in ihrer provisorisch eingerichteten Werkstatt umsah. Seine Tage hier in Belfast waren gezählt, und seltsamerweise tat ihm das leid. Verwunderlich eigentlich, wenn er daran dachte, wie wenig der Gedanke an diese Geschäftsreise nach Irland ihm zunächst zugesagt hatte. Aber immerhin durfte er hier die hinreißende Helena kennenlernen. Sie wollte ihn heute Abend in die Gesellschaft Belfasts und später vielleicht auch in die Londons einführen, womit sie ihm deutlich signalisierte, dass sie keinerlei Dünkel wegen seiner geringen Stellung hegte. Auch hatte er das sympathische Energiebündel Norah wiedergetroffen und ihre Freunde kennengelernt. Die Lebenseinstellung der Iren beeindruckte ihn tief. Ihre Art, das Leben trotz widriger Umstände in vollen Zügen zu genießen und sich gegenseitig zu helfen, war so ganz anders als das, was er bisher für wichtig und erstrebenswert gehalten hatte. An diesen neuen Erfahrungen und Erkenntnissen würde er noch eine ganze Weile gedanklich zu knabbern haben, dessen war er sich sicher.
Richard knipste die Deckenlichter aus und verließ den Schuppen. Ein heftiger Windstoß brachte ihn beinahe ins Taumeln und entriss ihm die Holztür, die mit einem lauten Knall hinter ihm ins Schloss fiel. Kräftig stemmte er sich gegen den Wind und steuerte dabei auf das Gästehaus zu, in dem er und sein Arbeitgeber bis letzte Nacht untergebracht gewesen waren.
Er betrat das Haus und klopfte leise an seine frühere Zimmertür. Dahinter hörte er ein Geräusch und kurz darauf eilige Schritte, bis eine Bedienstete der Pirries in einem schwarz-weißen Kleid und weißer Haube die Tür einen Spaltbreit öffnete. „Mr Martin?“ Die Frau warf einen prüfenden Blick zurück in Richtung Bett.
„Wie geht es Miss Susan?“, fragte er.
„Nicht gut, Mr Martin. Dr. Barkley war heute Vormittag zweimal hier. Das arme Kind hat viele Brüche, vielleicht sogar innere Verletzungen, sagt der Doktor. Er ist nicht sicher, ob sie überhaupt wieder erwachen wird.“
„Kann ich irgendetwas tun?“, erkundigte Richard sich mitfühlend.
Die ältere Frau schüttelte den Kopf. „Der Doktor sagt, Sie haben schon viel getan, indem Sie das arme Wesen hierher gebracht haben.“
Richard sah das Dienstmädchen fast entrüstet an. Wie hätte er eine verletzte Frau einfach ihrem Schicksal überlassen können? Andererseits hatte der Arzt
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