Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
mit seiner Bemerkung nicht ganz unrecht. Es war noch gar nicht lange her, da hätte Richard sich vermutlich sehr genau überlegt, ob es zu seinem Vorteil gereichte, ein ihm völlig unbekanntes Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen überhaupt wahrzunehmen, geschweige denn, sie kilometerweit ins Haus einer der bekanntesten Familien des Königreichs zu tragen.
„Ach, Mr Martin, hier liegt ein Herrenmantel. Gehört er Ihnen?“
„Nein, aber geben Sie ihn mir ruhig mit, ich übergebe ihn gern seinem Besitzer.“
Die Frau reichte ihm den großen schwarzen Mantel, den Norah am Vortag getragen hatte, und raunte dabei leise: „Es gibt so viel Elend in der Stadt. Im ganzen Land. Seit über hundert Jahren rufen wir nach Unabhängigkeit, nach Selbstverwaltung oder wenigstens danach, die Willkür der Landbesitzer einzuschränken …“ Sie unterbrach sich selbst und verschwand schnell im Inneren des Raumes.
Richard konnte ein verwundertes Schmunzeln nicht unterdrücken. Weder Norah noch Adam oder Dylan hatten ihm gegenüber politische oder sozialkritische Bemerkungen fallen lassen. Diese Frau jedoch, die er gar nicht kannte, äußerte sich ihm gegenüber so vertrauensvoll und offenherzig. Woran das wohl liegen mochte?
Kopfschüttelnd verließ er das Gästehaus und strebte zum Tor hinunter, um Norah den Mantel zu bringen. Sein rechtmäßiger Eigentümer vermisste ihn bei dem kalten, windigen Wetter sicher schmerzlich. Den Weg zum Haus der Caseys zu finden würde vermutlich kein Problem darstellen, und bis zu seiner Einladung am Abend hatte er noch genügend Zeit.
Nachdenklich schlenderte er durch die breiten Straßen, betrachtete die viktorianischen Bauten mit ihren prunkvoll verzierten Fronten und den gepflegten Gärten, die von schmiedeeisernen Zäunen umgeben waren. Allmählich gelangte er in den Teil der Stadt, in dem die Straßen enger und die Häuser einfacher wurden, bemerkte aber schon bald, dass er sein Orientierungsvermögen schlichtweg überschätzt hatte. Eine halbe Stunde später blieb er auf einem kleinen Platz stehen. Die Backsteinhäuser um ihn herum sahen alle gleich aus. Er fror und musste sich eingestehen, dass er keine Ahnung hatte, wo er sich befand.
Richard zog den fremden Mantel über und sah sich nach jemandem um, den er nach dem Weg fragen konnte.
Norah blickte unbehaglich die Straße hinunter, bevor sie sich fester in das schwere dunkelbraune Tuch hüllte, das sie sich um die Schultern gelegt hatte. Der Wind zerrte an ihren aufgesteckten Haaren und wickelte ihren bodenlangen Rock um ihre Beine. Sie passierte einige am Straßenrand stehende Frauen, die wildfremden Männern gegen Geld ihre Körper anboten.
Wieder sah sie sich um. Ihre Erinnerungen an diese Straße waren nicht gerade angenehmer Art. Vor etwas mehr als einem Jahr war Norah schon einmal hier gewesen, um Amy, die damals erst 15-jährige Enkeltochter einer älteren Freundin, aus einem der Häuser zu holen. Amys Großmutter war mit der Erziehung des aufmüpfigen Mädchens nicht gut zurechtgekommen und hatte ihr schließlich in ihrer Hilflosigkeit jedes Vergnügen rigoros gestrichen. Daraufhin war das ohnehin schwierige Verhältnis zwischen den beiden vollständig zerbrochen, und die Vollwaise hatte sich dem Einfluss Mrs Doyles entzogen. Nachdem Amy tagelang nicht nach Hause gekommen war, hatte die verzweifelte Mrs Doyle sich mit der Bitte an Norah gewandt, ihr bei der Suche nach ihrer Enkelin zu helfen.
Norah hatte nicht lange gebraucht, um von einer Freundin von Amy zu erfahren, dass ein Mann vom Queen’ s Square die junge Miss Doyle angesprochen und ihr angeboten hatte, bei ihm zu wohnen. Tagelang war Norah auf der Suche nach der hübschen Blondine entlang des Queen’s Square unterwegs gewesen und hatte bei ihren Fragen nach Amy sowohl in den heruntergekommenen Gebäuden als auch in den sorgfältig instand gehaltenen Häusern des Viertels ein nicht geringes Aufsehen erregt, bis sie bei ihrer aufreibenden Suche endlich in einem der anrüchigen Etablissements fündig geworden war. Norah war einfach in die Räumlichkeiten hineinmarschiert, hatte das zu Anfang sehr widerspenstige Mädchen nahezu gewaltsam aus dem Haus gezerrt, um mit ihr in den un übersichtlichen Gassen des Hafenviertels zu verschwinden. Es war wohl einem großen Überraschungseffekt zuzuschreiben, dass ihr spontan durchgeführtes Vorhaben nicht gescheitert war. Die dankbare ältere Dame hatte anschließend das wohl einzig Richtige getan, indem sie mit dem
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