Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
damit über die Haare und trocknete sein Gesicht ab, wobei er ausgerechnet den Schnitt wieder aufriss, den Norah ihm bei der Rasur zugefügt hatte. Seit Jahren trug er, wie auch sein Vater, einen Vollbart, doch Norah war davon überzeugt gewesen, es sei besser, wenn er sich davon trennte, damit er nicht so leicht wiedererkannt werden konnte.
„Bitte, Sir.“ Der Livrierte deutete auf einen Wandspiegel, und Adam holte, langsam und mit bewusst kontrollierten Bewegungen, wie er es bei den vornehmen Passagieren auf den Luxuslinern schon gesehen hatte, einen Kamm aus seiner Westentasche und glättete sich sorgfältig die Haare. Daraufhin steckte er den Kamm wieder ein und drehte sich zu dem Mann um.
„Wir werden uns später um Ihre Kleider kümmern, Sir“, bot dieser so unverfänglich an, dass Adam bei der Vorstellung, wann das sein würde, nicht einmal befürchten musste, rot zu werden.
Adam sah nahezu flehend zum Ausgang zurück. Dort entfernte ein junger Bursche gerade mit ein paar Tüchern die Flecken, die er bei seinem Eintreten hinterlassen hatte.
Wieder wurde die Tür geöffnet und zwei weitere Männer betraten das Etablissement.
„Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment, Sir“, bat der Livrierte und ging auf die beiden neuen Gäste zu. Er unterzog sie ebenfalls einer kurzen Musterung und bat sie schließlich höflich, aber bestimmt, das Haus wieder zu verlassen. Adam musste sich eingestehen, dass seine sorgsam ausgewählte Kleidung ihm demnach tatsächlich Einlass in das Haus gewährt hatte!
Inzwischen etwas sicherer geworden, sah der junge Mann sich suchend nach einer Ablagemöglichkeit für das feuchte und verschmutzte Handtuch um. In Erinnerung an seine Rolle straffte er seine Schultern und pfiff den Jungen herbei, der sofort zu ihm geeilt kam und ihm das Tuch abnahm.
Die ältere Dame lächelte ihn an und näherte sich ihm erneut mit schwingenden Hüften. „Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten, Sir? Whiskey? Champagner?“
Adam winkte ab. Er wollte diese Angelegenheit so schnell wie nur möglich hinter sich bringen.
„Wünschen Sie, dass ich Ihnen unsere Damen vorstelle?“
„Ja, Madam“, erwiderte er und räusperte sich verlegen.
Die Frau zog auf seine Antwort hin an einer unauffällig an der Wand entlang verlaufenden Kordel. Eine Glocke im oberen Stock läutete; ihr tiefer Klang dröhnte bis zu ihnen herunter.
Adam, dem es nun noch unbehaglicher zumute wurde, setzte sich auf eine mit weinrotem Samt überzogene Couch und drückte seine geballten Fäuste tief in das weiche Polster. Worauf hatte er sich da nur eingelassen? Sein Blick ging an den aus dunklem, edlem Holz gearbeiteten Sesseln und Tischen vorbei bis zu der Treppe, auf der ein roter Teppich verlegt worden war. Dieser wirkte im gedämpften Licht der wenigen, hinter milchigem Glas versteckten Lampen wie Blut, das die Treppe hinunterfloss.
Verhaltene Schritte auf den Stufen ließen ihn aufschauen. Obwohl er am liebsten die Flucht ergriffen hätte, zwang er sich, bewegungslos sitzen zu bleiben.
Leise und grazil wie Feen huschten fünf Frauen die Stufen hinunter und gesellten sich zu der älteren Dame. Die Frauen wirkten keinesfalls verlegen, sondern unterhielten sich miteinander, als ob er Luft wäre. Sie waren allesamt sehr jung, wobei Adam sich in seiner Einschätzung auch täuschen konnte. Immerhin wirkte Norah durch ihr rundliches Gesicht und die großen dunklen Augen ebenfalls viel jünger, als sie war.
Adam schluckte schwer, denn zu seinem Leidwesen befand sich Leah nicht unter den Mädchen. Sie wäre ihm sofort aufgefallen – die Mellows-Schwestern hatten beide dunkle Haare, während diese Mädchen ausnahmslos blond waren.
Die schrill gekleidete Empfangsdame drehte sich zu Adam um und die Mädchen verteilten sich wie auf Kommando im Raum und ließen sich auf den Sitzgelegenheiten nieder. Er erhob sich höflich.
„Nun, Sir? Möchten Sie sich eins der Mädchen gern näher anschauen?“, bot sie ihm mit einem anzüglichen Lächeln an.
Adam schüttelte sich innerlich. Die Frage klang harmlos, doch mit einem ganz ähnlichen Wortlaut hatte er sie auch schon auf dem Viehmarkt gehört. Was sollte er jetzt tun? Leah war offenbar nicht hier, obwohl Norah sich da so sicher gewesen war.
Konzentriert verschränkte er die Hände hinter dem Rücken, wie er es bei Rick gesehen hatte, und warf einen sehnsüchtigen Blick in Richtung Ausgang. Vor diesem stand der Livrierte, kümmerte sich jedoch nicht weiter um ihn.
„Ich …
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