Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
und Macht zu erlangen. Und nun versuchte er auch noch, ein Teil von Norahs Welt zu sein? Vielleicht sollte er sich einmal über seine Ziele klar werden!
„Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden“, unterbrach er folgerichtig die diskutierenden Männer. „Ich möchte mich verabschieden.“
Der Gastgeber musterte ihn und reichte ihm dann seine Rechte. „Sie sehen recht mitgenommen aus, junger Mann. Eine Folge Ihrer Verletzung?“, erkundigte er sich und spielte damit auf Richards noch immer deutlich verfärbte Stirn an.
Richard stimmte ihm zu, erleichtert über diese Ausrede, die ihm einen willkommenen Grund für sein überstürztes Verschwinden bot. Er verabschiedete sich von den Anwesenden und ließ sich von einem Bediensteten hinaus in das Foyer geleiten.
„Könnten Sie für mich Miss Andrews herausbitten, Luke?“, fragte er den Diener, der sich steif verbeugte und zur Bibliothekstür hinüberging. Richard schmunzelte, als ihm klar wurde, dass er sich den Namen des Bediensteten gemerkt hatte, nicht aber den des älteren Herrn aus besseren Kreisen. Norahs Einfluss auf ihn ging offenbar tiefer, als ihm das bewusst gewesen war!
Wenige Augenblicke später eilte ihm Helena entgegen. Ein paar gelöste Strähnen aus ihrer Aufsteckfrisur umflossen ihre Schultern, die das goldfarbene, enge Samtkleid unbedeckt ließ. „Mr Martin, Sie wollen schon gehen?“, fragte sie und legte ihre zarte Hand auf seinen Arm. Ihre Stimme klang besorgt.
Richard, der Helena nicht brüskieren wollte, nickte nur, nahm ihre Hand und führte sie an seine Lippen. „Ja, aber ich wollte nicht gehen, ohne mich von Ihnen zu verabschieden, Miss Andrews. Ich gehe zu Fuß zurück. Ihnen wünsche ich noch einen angenehmen Abend.“
Helena hängte sich bei ihm ein. „Sie“, begann die junge Frau und deutete auf die geschlossene Tür des Raucherzimmers, „sind manchmal anstrengend und borniert, Mr Martin. Gelegentlich sogar langweilig.“ Sie lächelte und sah sich um, damit sie sich sicher sein konnte, dass niemand ihre Worte hörte. „Ich hoffe aber, sie haben sich Ihnen gegenüber nicht …“
„Nein, Miss Andrews“, unterbrach er sie und vertiefte sich in ihre wunderschönen blauen Augen. Er war erstaunt darüber, dass Helena offensichtlich ihre eigene Gesellschaftsschicht kritisch sah und dies ungeniert aussprach. Ob sie sich bei einer munteren Tanzgesellschaft in den kleinen Gassen ebenfalls wohler fühlen würde als hier in diesem steifen Rahmen einer exquisiten Gesellschaft? Richard runzelte überrascht die Stirn. Tat er das etwa?
„Gut“, flüsterte sie und strahlte ihn erneut an.
Richard suchte die Grübchen in ihren Wangen, doch es gab keine. Irritiert über sich selbst runzelte er die Stirn.
„Ich verabschiede mich von den Damen und begleite Sie, Mr Martin. Ein abendlicher Spaziergang wird mir guttun.“
„Das brauchen Sie nicht zu tun, Miss Andrews. Ich vermute sogar, es regnet noch.“
Helena stützte sich mit einer Hand auf seinem Unterarm ab, stellte sich auf Zehenspitzen und raunte ihm zu: „Dann werde ich eben mit Ihnen gemeinsam nass!“
Helena betrat das Nebenzimmer, in dem die Zofen darauf warteten, ob sie von einer ihrer Damen gebraucht wurden.
„Ich benötige das Cape, Emily.“
„Sie möchten noch ausgehen?“, lautete die erstaunte Frage von Helenas bereits in die Jahre gekommener Bediensteter.
Helena warf ihr einen wütenden Blick zu. Nach ihren letzten Eskapaden hatten ihre Eltern die junge, leicht zu beeinflussende Zofe durch Emily ausgetauscht. Sie hofften wohl, ihre wilde Tochter dadurch besser kontrollieren zu können.
„Mr Martin geht zu Fuß nach Hause und ich werde ihn begleiten“, erklärte Helena bestimmt. Als Emily sich umdrehte und ihr Cape holte, legte sich ein siegessicheres Lächeln auf Helenas Gesicht. Die ältere Frau versuchte zwar häufig, sie von ihren Einfällen abzuhalten, widersprach ihr aber niemals ernsthaft, da ihr das nicht zustand.
„Sie werden sich Ihr Kleid ruinieren“, warnte Emily, als sie Helena das einfache schwarze Cape umlegte.
„Das ist es mir wert“, antwortete die junge Frau.
Richard war kurz davor, sich in sie zu verlieben, das spürte sie. Und die Gelegenheit galt es zu nutzen – heute!
„Ihre Schuhe“, warnte Emily noch einmal.
Helena schenkte ihr nur ein Lachen. „Davon habe ich noch mehr“, rief sie leichthin, als sie zur Tür hinübertänzelte.
„Im Gegensatz zu anderen Leuten“, vernahm sie eine der anderen Zofen, doch sie
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