Der Klang des Pianos: Roman (German Edition)
weiter hinter sich her. Sie liefen um eine Gruppe viktorianischer Stühle herum, wobei Norah einen von diesen mit ihrer freien Hand ergriff und umwarf. Womöglich konnte sie dadurch diesen Ryan ein wenig aufhalten! Diese Hoffnung zerschlug sich jedoch, denn der sprang kurzerhand über das Hindernis hinweg.
Plötzlich tauchten vor ihr wie aus dem Nichts zwei Männer auf. Norah prallte zurück und Leah stieß einen erschrockenen Schrei aus.
„Lass sie durch, Callum“, sagte da jedoch der eine von ihnen und tatsächlich traten die Männer beiseite.
Norah reagierte geistesgegenwärtig. Sie schob Leah zwischen den beiden Männern hindurch und diese riss die Tür auf. Hinter ihnen dröhnten laute, wütende Männerstimmen durch den Raum.
Mit flatternden Röcken und im Wind peitschenden Haaren liefen die beiden Frauen die Straße entlang. Leahs nackte Füße platschten durch die Pfützen und den Schlamm. Sie trat auf Glasscherben und spitze Steine. Doch kein Schmerzensschrei von ihrer Seite ließ Norah ihre wilde Flucht unterbrechen.
Die beiden Flüchtenden bogen in eine Seitenstraße ein, und als Norah einen ängstlichen Blick zurück warf, konnte sie im schwachen Licht der Straßenlaterne diesen Ryan aus dem Haus stürmen sehen. Mit einer hastigen Bewegung riss sie Leah mit sich, um sich gleich darauf eng an die Hauswand zu drücken, in der Hoffnung, noch rechtzeitig aus seinem Blickfeld verschwunden zu sein.
Keuchend, mit schmerzenden Lungen und von oben bis unten mit Schlamm bespritzt lehnten Norah und Leah nebeneinander an der kalten Hauswand. Irgendwann hob Norah den Kopf und musterte ihre Freundin. „Bist du in Ordnung, Leah?“, fragte sie leise.
Leahs grüne Augen blitzten Norah an. „Was hast du dir dabei gedacht?“
„Ich musste dich doch da rausholen, Leah. Er hat Susan schwer verletzt. Ich konnte nicht zulassen, dass er dir womöglich dasselbe antut.“
„Aber du wirst noch gebraucht, Norah. Dir darf nichts zustoßen.“
„Und deine Schwester braucht dich.“ Auf Norahs nassem Gesicht breitete sich ihr typisches fröhliches Lächeln aus. „Wir haben es geschafft, Leah!“, stieß sie freudig hervor und zog die Freundin fest in ihre Arme.
Geraume Zeit standen sie einfach nur da, während hinter ihnen ein paar Passanten vorbeigingen und ein Automobil in die Straße einbog. Während Leah sich zitternd an sie klammerte, starrte Norah in Gedanken versunken auf die Hauswand vor sich. Ihre Freundin hatte den Zuhälter Ryan genannt. Der Erste-Klasse-Passagier auf der Olympic , der sich laut Violet mit ihr auf dem Bootsdeck hatte treffen wollen, hatte ebenfalls Ryan mit Vornamen geheißen. Ob es sich dabei um ein und dieselbe Person handelte? War dieser Hüne ihr möglicherweise nicht nur nach Freiburg, sondern auch auf eine ihrer Schiffsheuern gefolgt? Wie weit musste sein Hass auf sie gehen?
Womöglich spielte ihr bei ihren Überlegungen einfach nur ihre Fantasie einen Streich; immerhin war Ryan ein gebräuchlicher Vorname. Norah straffte die Schultern und nahm sich zum einen vor, etwas vorsichtiger zu sein, und zum anderen, ihren Freunden und ihrer Familie nichts von ihrem Verdacht zu erzählen. Sie wollte nicht schon wieder einen ständigen Begleiter an ihrer Seite haben oder gar erneut weggeschickt werden.
Schließlich löste sich Norah aus Leahs Umklammerung. Dem Mädchen rannen Tränen über das schmutzige Gesicht, und Norah nahm beide Hände zu Hilfe, um sie ihr abzuwischen. „Ich bringe dich jetzt zu Susan“, flüsterte sie ihr zu, und auf Leahs Gesicht zeigte sich ein zaghaftes Lächeln.
Genau in diesem Augenblick wurde Norah erneut von hinten gepackt.
Kapitel 22
Callum rieb sich mit seinen verdreckten Händen seine schmerzende Wange. „Warum hat er mich geschlagen? Du bist doch der Größere von uns beiden. Außerdem hast du gesagt, wir sollen Norah laufen lassen.“
„Er hat dich wahrscheinlich gerade deshalb geschlagen, weil du der Kleinere bist. Von dir erwartete er weniger Gegenwehr“, erklärte Connor ungerührt. Suchend sah er sich um. Jetzt hatten sie zwar das Mädchen vor dem Zugriff dieses Hünen bewahrt, doch dafür hatten sie sie aus den Augen verloren.
„Was wollte sie da überhaupt, wenn sie mit diesem Schlägertypen keine gemeinsame Sache macht?“, knurrte Callum und betastete noch immer vorsichtig sein geschwollenes Gesicht.
„Sieht so aus, als hätte sie ein Mädchen da rausgeholt. Wer weiß, vielleicht war sie ja auch mal eine von ihnen?“
„Und? Was hat
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