Der Klang des Todes - Bartosch Edström, C: Klang des Todes - Furioso
Liebste Helena, denk nicht zurück, schließlich habe ich dich erwählt … «
Caroline zuckte zusammen. Sie wirkte so erstaunt, als hätte sie soeben einen Dieb ertappt.
»Du hast mich gerade Helena genannt!«
»Unsinn!«
»Doch! Du hast ›liebste Helena‹ gesagt!«
»Ach?« Seine Wangen röteten sich, und er umarmte sie noch fester, ein Versuch, sich an das zu klammern, was er hatte oder zumindest zu haben glaubte. Carolines Atmung beschleunigte sich wieder. Sie versuchte sich loszumachen.
»Das war jetzt wirklich verdammt seltsam. Entschuldige bitte, aber das strengt mich alles ungeheuer an!« Sie versuchte ihre zunehmenden Zweifel in Worte zu fassen. »Nennst du sie so? Liebste Helena? Das klang so schön … so selbstverständlich … und vollkommen abscheulich.«
»Caroline, jetzt reicht es aber … «
Sie schob ihn milde beiseite und verließ seinen Schoß. Raoul erhob sich, um ihr zu folgen, aber sie trat ein paar Schritte beiseite und hob eine Hand in einer abwehrenden Geste.
»Ich muss jetzt eine Weile allein sein.« Ihre Stimme begann wieder zu zittern. »Ich muss das erst verarbeiten. Das ist keine leichte Beziehung, die wir da anstreben, Raoul. Wir haben so allerhand im Gepäck, das gelüftet und sortiert werden müsste. Das nimmt viel Zeit in Anspruch. Denn es tut verdammt weh, dass du meine Schwester begehrst, obwohl du mich in den Armen hältst. Verstehst du denn nicht, wie sehr es mich verletzt, dass sie die gleichen Dinge mit dir getan hat wie ich?«
»W ir haben nicht dasselbe getan. Bei unserer Beziehung, deiner und meiner«, sagte Raoul, um jeglichen Zweifel zu zerstreuen, »geht es um etwas ganz anderes als damals bei Helena. Bei uns geht es um mehr als nur um Sex.«
»Jetzt hast du es schon wieder getan! Sag nicht Sex!«
Raoul hob entmutigt die Hände und drehte sich um. Dann ging er auf die Treppe zu.
»Gehst du jetzt einfach? Willst du mich hier mit meinen verrückten Gedanken allein lassen?«
Er warf ihr einen letzten Blick zu, ehe er nach draußen verschwand.
»T ob dich an den restlichen Bach-Suiten aus, und wir sehen uns im Atelier, wenn du wieder im Gleichgewicht bist, Caroline. Dann können wir uns ernsthaft über die Zukunft unterhalten.«
Mit schweren Schritten erklomm er die Treppe zur Küche und machte die Tür hinter sich zu. Erschöpft ließ er sich an den Eichentisch sinken und schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. Er war nicht mehr jung. Leidenschaft war etwas für junge Leute. Diese Wechselbäder der Gefühle würden ihm noch einen Herzinfarkt eintragen, davon war er überzeugt. Die Deckenlampe brannte nicht, nur die milchweiße Abendsonne erhellte den Raum. Staubpartikel tanzten in dem Lichtstreifen.
Die Müdigkeit überwältigte ihn. Er schloss die Augen, um seine Gedanken zu sammeln. Er wollte sich auf das neue wunderbare Leben konzentrieren, das vor ihm lag. Aber sobald er die Augen geschlossen hatte, um sich Caroline mit dem Baby vorzustellen, sah er nur Helena. Helena und er gingen Arm in Arm durch Manhattan. Wie sehr er auch versuchte, den Kopf der Frau neben sich auszutauschen, so war doch Helena immer wieder da. Helenas geschmeidiger Körper im Bett, ihr akkurat geschnittener Pony, der rhythmisch wippte, wenn er ihre Hüften umfasste. In all den Jahren hatte er sie kein einziges Mal »liebste Helena« genannt.
Diese Offenbarung erfüllte ihn mit Erstaunen. Er war auf diese starken Gefühle für Helena nicht vorbereitet. Das Seltsamste war jedoch, dass die Lust nicht wieder entflammt worden wäre, wenn ihm Caroline nicht mit seiner Affäre mit ihrer großen Schwester in den Ohren gelegen hätte.
Der Schlussakkord der dritten Cellosuite verklang dumpf zwischen den Wänden und weckte Raoul aus seinen Überlegungen. Das Bewusstsein, einen Beschluss fassen zu müssen, ehe Caroline vermutlich recht bald das Studio verließ, stresste ihn. Seine Überlegungen waren alles andere als beendet. Aber als die vierte Suite mit ihren gewaltigen Sprüngen und dem sich ständig wiederholenden Es anhob, spürte er, dass ein Beschluss in ihm heranreifte. Er stand auf und begab sich in die Diele.
Eine Weile blieb er dort stehen. Draußen wurde es jetzt rasch dunkel, und er streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus, um in der Diele Licht zu machen. Dann bereute er es jedoch. Aus dem Studio hörte er die Gigue der vierten Suite in zornerfülltem Tempo. Früher hatte er gerade diesen Satz so herzlich und fröhlich empfunden, und doch gelang es Caroline,
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