Der Klang des Todes - Bartosch Edström, C: Klang des Todes - Furioso
fallen.
Anna rührte mit dem Holzlöffel um. »W illst du noch mehr, Raoul?«
Ohne seine Antwort abzuwarten, tat sie erst ihm und dann den anderen auf.
Raoul hörte kein Wort von dem, was sie sagte. Er merkte nicht mehr, dass Anna neben ihm saß. Helena hatte aufgehört zu existieren. Mit voller Kraft war er mitten ins Herz getroffen worden. Wie die melodramatische Parodie einer blitzartigen Verliebtheit. Dass diese wirklich existierte, hatte er sich bislang nicht vorstellen können. Angesichts seiner großen Erfahrung hätte er darüber natürlich nur lachen können. Aber nun fehlte ihm plötzlich jegliche Handhabe, die er sich im Laufe der Jahre angeeignet hatte. Seine Schläfen pochten, jeder Muskel war angespannt, mit Mühe gelang es ihm, das Essen, das er im Mund hatte, herunterzuschlucken. Fast verdurstend streckte er die Hand nach seinem Weinglas aus und leerte es in einem Zug. Die Wärme des Weins breitete sich in seinem Körper aus, und seine Atmung beschleunigte sich. Er war vollkommen überrumpelt worden. Vollkommen. Natürlich war er ihr früher schon begegnet und hatte dabei festgestellt, dass sie eine ungewöhnliche Schönheit war. Er traf ständig schöne Frauen, und diese signalisierten auch meist ihre Bereitschaft. Er brauchte sich nur zu bedienen und seiner Wege gehen. Unzählige Eroberungen, die sich danach in der Anonymität verloren. So etwas wie dies hier hatte er noch nie erlebt.
Mit gespieltem Übermut stibitzte Caroline eine Krabbe von Louises Teller. Louise lachte, tunkte ein Stück Brot in das Aioli und schob es Caroline in den Mund. Etwas Aioli blieb an ihrer Oberlippe hängen, und Caroline ließ ihre rosa Zunge darübergleiten, während sie gleichzeitig Raouls Blick über den Tisch hinweg auffing. Dieser hüstelte in die Faust, ließ sie aber nicht aus den Augen. Caroline schluckte und spürte, wie sich ihre Wangen erhitzten. Verwirrt starrte sie auf den Tisch und rührte in ihrer Suppe. Als sie wieder aufschaute, hatte er den Blick abgewandt. Er machte sich an seiner Serviette zu schaffen und versuchte sich darauf zu konzentrieren, diese zusammenzufalten. Zerstreut riss Caroline ein Stück Brot ab und formte es zwischen den Fingerspitzen zu einer Kugel. Louise flüsterte ihr etwas ins Ohr, sie kicherte und warf den Kopf zurück. Während sich Louise umdrehte, um sich mit Helena zu unterhalten, wanderte Carolines Blick erneut zu Raoul. Jetzt waren seine Augen etwas von Wein getrübt, und er schluckte angestrengt. Dann schärfte sich sein Blick in konzentriertem Ernst, als er über ihr Gesicht strich. Systematisch betrachtete er ihre gesamte Erscheinung, ihr Haar, ihre Augen, Nase, Mund, den Hals entlang zur Brust, die sich unter seiner Musterung immer heftiger hob.
Nach dem Essen unterhielten sie sich noch eine Weile. Louise fing Carolines Hand zwischen den Stühlen auf. Nach einer Weile wurde sie feucht und warm, aber Caroline hielt sich weiterhin geradezu krampfhaft fest. Als Louise schließlich merkte, dass sich ihre Freundin endlich losmachte und aufstand, um wie immer ins Studio zu gehen und zu üben, ahnte sie nicht, dass sie zum letzten Mal so liebevoll einträchtig beieinandergesessen hatten. Sorglos lächelnd nickte sie Caroline zu, die sich Mühe gab, ihre Innigkeit überzeugend zu erwidern, ehe sich Louise wieder der Unterhaltung mit ihren Freunden zuwandte.
Sie nahm das Cello zwischen die Knie und spannte den Bogen. Dann ließ sie die Hände kraftlos fallen. Die Spitze des Bogens ruhte auf dem Boden. Sie konnte einfach nicht mit dem Spielen beginnen. Schamgefühle erfüllten sie, aber verwandelten sich mit der Zeit in Verärgerung. Diese Verärgerung erzeugte Energie. Nach einigen Minuten fand der Bogen von allein zu den Saiten, und sie begann Kodálys Sonate für Cello zu phrasieren. Als ihre Hände beschäftigt waren, kamen die Gedanken. Alles war so schiefgegangen. Das verstand sie sehr gut, aber sie vermochte nicht, ihre eigene Verantwortung dafür zu sehen. Sie log. Sie log, indem sie nicht selbst die Initiative dazu ergriff, die Wahrheit zu sagen. Eigenmächtig hatte sie einen Entschluss gefasst, der auch das Glück oder Unglück anderer betraf. Selbst empfand sie vor allem Erleichterung. Die Wahl, die sie getroffen hatte, schloss eine Tür, öffnete gleichzeitig aber auch eine andere. Sie weckte ein Gefühl, das ihr schon bekannt war, das sie oft empfunden hatte und das eine Entwicklung verhieß, die sie sich selbst noch nicht so recht eingestehen wollte. Sie
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